Wenn Macht und Besitz auseinanderklaffen
Von Heidi Rohde, Frankfurt
Vielerorts sind sie schon üblich, in Deutschland sind sie verboten – und verpönt: Mehrstimmrechte bei verschiedenen Aktiengattungen von börsennotierten Unternehmen. Allerdings kommen sie bei Kapitalmarktteilnehmern inzwischen verstärkt auf den Radar. Denn unterschiedliche Aktiengattungen sind vor allem bei vergleichsweise jungen Technologieunternehmen verbreitet, deren Gründer oder Mehrheitseigentümer sich beim Börsengang eine größere Machtfülle sichern, aber das Kapital gleichzeitig so weit wie möglich öffnen wollen, um frische Mittel für Wachstum aufzunehmen.
Aktuell ist das IPO-Fenster angesichts der geopolitischen Spannungen fest geschlossen. Dennoch bereiten sich die globalen Finanzplätze im Wettbewerb um neue Listings vor. Im Koalitionsvertrag heißt es, man wolle „Börsengänge und Kapitalerhöhungen sowie Aktien mit unterschiedlichen Stimmrechten (Dual Class Shares) in Deutschland gerade auch für Wachstumsunternehmen und KMUs erleichtern“.
Das Deutsche Aktieninstitut (DAI) hat zuletzt in einer Studie zu Auslandslistings anhand prominenter Beispiele aus der Biotech-Szene wie Biontech und Curevac, die beide an die Nasdaq gegangen sind, festgestellt, dass neben einem deutlich leistungsfähigeren Ökosystem Kapitalmarkt in den USA auch Fragen der Governance bei der Standortentscheidung eine Rolle spielten. Norbert Kuhn, stellvertretender Leiter Kapitalmärkte beim DAI, weist gegenüber der Börsen-Zeitung darauf hin, dass „auch Mehrstimmrechte dabei zur Sprache kamen“. Hintergrund sei, dass „diejenigen, die die Firma aufbauen oder das Management, die wesentlich den Wert des Unternehmens vermehren, (…) mehr Kapital aufnehmen können, ohne wirklich die strategische Kontrolle zu verlieren“, heißt es in der Studie. Laut Kuhn sind die Investoren hierzulande „eher skeptisch“.
Beim Fondsverband BVI wird das unverhohlen deutlich: „Wir sind gegen die Einführung von Aktien mit unterschiedlichen Stimmrechten“, heißt es dort ohne Umschweife. Es müsse weiterhin der Grundsatz „One share, one vote“ gelten. „Eine Ungleichbehandlung von Aktionären durch zum Beispiel eingeschränkte Mitwirkungsmöglichkeiten widerspricht auch den Zielen der EU-Aktionärsrechterichtlinie II, die u. a. das Engagement der Aktionäre verbessern will.“ Große institutionelle Einzeladressen halten sich komplett bedeckt und wollen zu dem Thema nicht Stellung nehmen.
Dass eine Zweiklassengesellschaft unter den Aktionären einem stärkeren Engagement der Anteilseigner widerspricht, ist zweifellos ein wunder Punkt in der Kampagne derjenigen, die für Mehrstimmrechte eintreten. Dagegen hält Moritz Weber, Partner bei der Wirtschaftskanzlei Rittershaus, es für „unzweifelhaft begrüßenswert“, wenn die Einführung von Mehrstimmrechten für Akten auch innerhalb der Europäischen Union für die SE und ebenso für die nationalen Aktiengesellschaftsformen gelänge, „nicht zuletzt, um ein starkes Aufbruchsignal an die attraktiven Börsenplätze in Übersee zu senden“.
Tatsächlich kommen mit Google, Facebook, Tesla oder Snap die prominentesten Beispiele einer solchen Kapitalstruktur aus den USA, ausgerechnet das Land, in dem die Kampagne „One share one vote“ um die Jahrtausendwende mit größtem Eifer geführt wurde. Sie richtete sich dabei nicht zuletzt gegen das deutsche Modell der Stamm- und Vorzugsaktien, die auf andere Weise ein ähnliches Ziel verfolgen, nämlich eine verstärkte Kontrolle des Unternehmens durch die Alteigentümer. Die einzige deutsche Tech-Ikone SAP, die diese Struktur zum Schutz vor Übernahmen bis ins Jahr 2000 beibehalten hatte, stieß damit an der Wall Street auf eine derart starke Ablehnung, dass das Unternehmen sich schließlich der Devise „One share one vote“ beugte und die unterschiedlichen Aktiengattungen abschaffte.
Paradebeispiel Google
Ausschlaggebend für einen Sinneswandel unter den Investoren war in den USA der Börsengang von Google 2004. Die Erfolgsgeschichte der Suchmaschine machte auch die verpönten Mehrfachstimmrechte hoffähig – und die Wall Street für junge Technologieunternehmen nochmals attraktiver. Unter den US-Tech-IPO im Jahr 2020 lag der Anteil von Unternehmen mit Dual-Class-Aktien bei rund 45%.
In Deutschland fand SAP mit der Abschaffung der Vorzüge keine Nachahmer. Stattdessen sind Stamm- und Vorzugsaktien nach wie vor ein vielfältiges Phänomen, auch im Dax. Schwergewichte wie Volkswagen, BMW und RWE haben ihre Vorzüge ebenso wie beispielsweise Sixt, Fuchs Petrolub und Biotest oder auch Sartorius. Die Beispiele belegen augenfällig den Zweck, der anderenorts mit Mehrfachstimmrechten erreicht wird: Eine Familie oder ein Großaktionär will die Macht in den Händen behalten, zugleich aber möglichst viel Kapital beim Publikum platzieren. Dem Vernehmen nach ist die Fondsbranche hierzulande auch mit Vorzugsaktien nicht sonderlich glücklich und würde die Einführung weiterer Vorzüge ablehnen.
Als Pluspunkt des Gattungsschemas Stammaktie und Vorzugsaktie gegenüber dem verpönten Modell von Aktien mit Mehrfachstimmrechten dürfte der „Vorzug“ bei der Gewinnbeteiligung für die ansonsten stimmrechtslosen Anteilseigner gelten. Jedoch sind Mehrfachstimmrechte an sich kein Hindernis, um den Aktionären unterschiedlich hohe Dividenden zukommen zu lassen. So ist eine differenzierte Dividende bei unterschiedlichen Aktiengattungen in Italien durchaus gang und gäbe. Beispiel ist das Index-Schwergewicht Telecom Italia, das über zwei verschiedene Aktiengattungen verfügt, die jeweils einer unterschiedlichen Dividendenpolitik unterliegen.
Außer in Italien sind in Europa Mehrfachstimmrechte in den Niederlanden, Großbritannien, in der Schweiz und in Schweden erlaubt und von Investoren akzeptiert. Die Deutsche müssen sich fragen lassen, warum völlig stimmrechtslose Aktiengattungen eher tragbar sind als solche mit vermindertem Stimmrecht.