Wer groß denkt, bringt es in Russland weit
Eine junge Ökonomie bietet mit ihren Mangelerscheinungen viele Chancen: Wer groß denkt und das nötige Know-how gepaart mit dem erforderlichen Mut hat, kann entsprechend reüssieren. Aber gerade in einem großen Land wie Russland muss man dafür tatsächlich das große Bild sehen.
Beeindruckende Privatunternehmer wie Sergej Galizki, Gründer der zweitgrößten Handelskette Magnit, die er inzwischen verkauft hat, können ein Lied davon singen. Binnen ein, zwei Jahrzehnten hat er es vom sprichwörtlichen Tellerwäscher zum Multimilliardär geschafft. Ausgehend von der südrussischen Provinzstadt Krasnodar, aus der auch die Opernsängerin Anna Netrebko stammt, hat der heute 54-jährige Fußball- und Schachliebhaber das ganze Land mit Läden überzogen und ist zum größten privaten Arbeitgeber geworden. In knapp 4000 Ortschaften stehen heute etwa 15000 Magnit-Lebensmittelläden, 500 Supermärkte, 5000 Parfümerie- und Kosmetikgeschäfte und 1000 Apotheken. Dazu kommen ein eigener Agrarkonzern und ein Logistikunternehmen mit 6000 Fahrzeugen. Ein Außenstehender könne sich das Tempo, mit dem man in der Umbruchzeit wachsen müsse, gar nicht vorstellen, sagte Galizkij im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Zu den besten Zeiten wurden pro Tag russlandweit fünf bis sechs neue Geschäfte eröffnet. Einen solchen Konzern zu führen, sei nur wenigen gegeben, die die Fähigkeiten dazu unbewusst im eigenen Leben entwickelt haben, sagte er.
Warum wir das hier in Erinnerung rufen? Weil die russische Mercury Retail Group, die die Alkoholmärkte „Krasnoje & Beloje“ sowie „Bristol“ unterhält, in ihrem Prospekt für den geplanten Börsengang die mögliche Eröffnung von 51300 Geschäften ins Spiel bringt. Das wäre mehr als das Dreifache der bestehenden Geschäfte. Die Zeichnungsfrist für den Börsengang endete am 9. November. Das Unternehmen strebt eine Marktkapitalisierung von 12 bis 13 Mrd. Dollar an.
Die Russen lieben aber auch Restaurants. Und zwar offenbar so sehr, dass sie in der Zeit des Minilockdowns vom 28. Oktober bis 7. November – übrigens eine Rarität, zu der sich der notorische Lockdowngegner Wladimir Putin angesichts der horrenden Coronazahlen gezwungen sah – sogar ins Hotel übersiedelt sind, weil dort die Restaurants offen hatten. Zumindest in Moskau soll das der Fall gewesen sein, wie die Wirtschaftszeitung „Wedomosti“ bei einem Rundruf in den Hotels herausfand. Das Ausmaß ist durchaus pikant. Denn in so manchem Hotel waren bis zu 30% der Betten von Moskauer Stadtbewohnern gebucht. Im Moskauer Umland zeigte sich ein ähnliches Phänomen, wobei dort die Auslastung der Hotels oft bis zu 100% betragen habe. Das Hotel sei schließlich die einzige legale Möglichkeit, um ein romantisches Abendessen zu genießen, meint etwa Wadim Prasow, Vizepräsident der Hoteliervereinigung. Meist werde dafür ein Vier- oder Fünf-Serne-Hotel gewählt.
Die Corona-Pandemie ist für viele Russen offenbar noch lang kein Grund, auf ein solches Abendessen zu verzichten oder es zu verschieben. Wenn die Russen Geld haben, wollen sie es nämlich ausgeben. Besagter Galizki hat das einmal so erklärt: „Die Deutschen und die Europäer sind Calvinisten, arbeiten viel und sparen. Die Russen sagen sich: Wir sind zum letzten Mal geboren. Was wir verdient haben, wollen wir ausgeben. Es ist eine Folge der vergangenen 500 bis 700 Jahre, als die Russen immer wieder ihren Besitz verloren haben.“
Zurück zur Coronakrise und zum Lockdown, den Kremlchef Putin partout nicht so bezeichnen will, weshalb er von „arbeitsfreien Tagen“ spricht, was mehr Beliebtheit im Volk sichert: Um die Russen zum Impfen zu bewegen, werden in Moskau unter den Impfwilligen derzeit auch zehn Wohnungen verlost. Die Lotterie mit den ausgelobten Geldpreisen – jeweils 100000 Rubel für 2000 Sieger – wird um einen Monat bis Ende Dezember verlängert. Im neuesten Lockdown haben die Menschen immerhin etwas mehr Impfaktivität gezeigt. Insgesamt freilich bewegt sie sich auf niedrigem Niveau. Mit Stand 9.November waren ziemlich genau 50 Millionen Menschen vollständig gegen Covid-19 geimpft. Das sind 34,2% der Gesamtbevölkerung und 43,1% der Erwachsenen.