„Wie ein geschlossener Dampfkessel voller Geld“
„Wie ein geschlossener Dampfkessel voller Geld“
Die russische Wirtschaft überhitzt. Es bestehen Zweifel, ob die Zentralbank den Kampf gegen die Folgen der Inflation gewinnt.
Von Eduard Steiner, Moskau
Wenn der ehemalige Vizechef der russischen Zentralbank, Oleg Wjugin, von den jüngsten Vorgängen an der Moskauer Börse erzählt, dann kann selbst er eine gewisse Verwunderung nicht verbergen. Es sei nämlich nicht mehr so wie bis vor Kurzem, als nicht wenige Privatinvestoren „mit einer oder vielleicht fünf Mill. Dollar auf den heimischen Markt gekommen sind“, sagt Wjugin, jahrelang Aufsichtsratschef der Moskauer Börse, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. In jüngster Zeit sei es so, dass zunehmend Investoren mit 100 Mill. oder mehr auftauchen. „Ein völlig neues Phänomen.“
Immer mehr Russen haben immer mehr auf der Seite. Und immer mehr von ihnen wissen derzeit nicht, wohin damit. „Russlands Wirtschaft ist wie ein geschlossener Dampfkessel voller Geld“, bringt Wjugin es auf den Punkt. Und die Börse ist nur einer der Plätze, wo auf Teufel komm raus gekauft wird, was es zu kaufen gibt.
Neue Phase der russischen Wirtschaft
Die russische Wirtschaft befindet sich in einer neuen Phase. Und auch sie ist von unerwarteten Phänomenen gekennzeichnet, wie es vor Beginn des Ukraine-Krieges schon die vorherigen Phasen waren.
Das erste Kriegsjahr, 2022, war überhaupt eine einzige Anomalie gewesen. Weil die Preise für Öl und Gas extrem in die Höhe geschnellt waren und der Westen seine Exporte nach Russland umgehend gedrosselt hatte, erzielte Russland damals einen Leistungsbilanzüberschuss von 238 Mrd. Dollar – so viel wie nie zuvor und den zweitgrößten weltweit nach China. Einmal abgesehen davon, dass dadurch auch der Rubel immens erstarkte, schafften es die Russen, den vielerorts prophezeiten Totalabsturz der Wirtschaft abzuwenden und die Kontraktion des Bruttoinlandsproduktes (BIP) auf 1,2% zu beschränken. Gleichzeitig erreichte der Kapitalabfluss aus dem Land damals wohlgemerkt ein Rekordniveau von 217 Mrd. Dollar.
Nur scheinbares Desaster
Aber schon 2023 änderte sich die Situation fundamental. Das westliche Embargo gegen den russischen Ölexport inklusive Preisdeckel von 60 Dollar je Barrel wurde wirksam. Und zeigte auch Wirkung. Der Leistungsbilanzüberschuss brach – auch wegen des gesteigerten Imports – auf 50 Mrd. Dollar ein. Und die Budgeteinnahmen aus dem Öl- und Gassektor gingen um mehr als ein Fünftel zurück.
Was auf den ersten Blick wie ein Desaster aussieht, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen nur als scheinbare Katastrophe. Die Einnahmen aus dem Öl- und Gassektor waren nur gegenüber dem anomalen Jahr 2022 niedrig, gegenüber 2021 fielen sie in Dollar gerechnet nur leicht und stiegen in Rubel aufgrund der neuen Rubelschwäche sogar an.
Viel Geld im Umlauf
Und dass die Budgeteinnahmen insgesamt wuchsen, liegt daran, dass sie inzwischen bereits zu zwei Dritteln aus Quellen jenseits des Öl- und Gassektors kommen.
Im Unterschied zu früher spart der Staat auch nicht mehr, sondern bringt das Geld unters Volk. Das BIP-Wachstum von 3,6% 2023 ist daher nicht nur dem Basiseffekt aus 2022 geschuldet, sondern „aggressiven Militärausgaben und einem konsumgetriebenen Wachstum, das sich aus stark erhöhten Zahlungen an das Militärpersonal im Kriegsgebiet und seine Familien sowie den erhöhten Renten und Sozialleistungen nährt“, heißt es in einer Studie des Oxford Institute for Energy Studies.
Die erweiterte Geldmenge stieg 2023 laut russischer Zentralbank um 8,5%, nachdem sie 2022 um 20,1% hochgeschnellt war. „In Russlands Regionen, von Irkutsk am Baikalsee bis nach Archangelsk nahe dem Polarkreis, erzählen mir alle, dass sie noch nie so viel Geld gesehen haben“, sagt Wladislaw Inosemzew, Chef des Moskauer Zentrums zur Erforschung postindustrieller Gesellschaften, zur Börsen-Zeitung.
Kaum noch Kapitalabflüsse
Dass die „Wirtschaft wie ein geschlossener Dampfkessel voller Geld ist“, liege wesentlich daran, dass der Kapitalabfluss aus dem Land infolge der Sanktionen und anderer Hindernisse kaum noch stattfinde, sagt Wjugin. Ökonom Wladislaw Inosemzew sekundiert: „Überweisungen in Offshore-Zonen funktionieren nicht mehr. Und aufgrund der Sperre der Kreditkarten flossen auch jene 60 Mrd. Dollar, die Russen jährlich im Urlaub und über E-Commerce in den Westen überwiesen, nicht mehr raus.“
Während Geld nicht mehr rausfloss, floss spätestens ab 2023 zusätzliches herein. „Russische Unternehmen haben seit Kriegsbeginn etwa 50 Mrd. Dollar zurück nach Russland transferiert, weil sie fürchteten, dass es ihnen im Westen weggenommen wird“, sagt Inosemzew. Unterm Strich sei der Kapitalabfluss 2023 gegenüber 2022 auf ein Sechstel eingebrochen, sagte Zentralbankchefin Elvira Nabiullina im Herbst.
Neue Sanktionen
Die Phänomene, die 2023 zutage traten, setzen sich 2024 fort. Und verstärken sich. Dazu trägt bei, dass die USA Ende Dezember mittels Präsidentenerlass Banken aus mit Russland befreundeten Staaten mit Sekundärsanktionen gedroht haben, falls sie den Export von Gütern mit potenziell militärischer Verwendung nach Russland finanzieren. Immer mehr Banken aus China oder der Türkei haben den Zahlungsverkehr aus Russland heraus erschwert. Seit dem 10. Juni lässt auch die Raiffeisenbank International, die größte Auslandsbank in Russland, keine Dollarüberweisungen aus dem Land mehr zu. „Blutgerinnsel haben sich in allen Hauptgefäßen gebildet“, beschrieb Russlands Ex-Finanzminister Michail Sadornow vor Kurzem die Situation im System der Auslandsüberweisungen.
Das erschwert nun auch den Import. Dabei war er zu einem gewissen Ventil geworden, über das die Russen ihren Nachfragestau zum Teil auflösen konnten. Im Inland kann das Produktionsangebot mit der Nachfrage nicht mithalten, weil alles auf Rüstung konzentriert ist. Die Diskrepanz zwischen Nachfrage und Produktionsausstoß wird auf 1,5 bis 3% des BIP geschätzt. „Das alles hat 2023 zur Überhitzung geführt. Und sie setzt sich 2024 fort“, sagt Wjugin.
Hohe Inflation
Sie wird nicht nur dadurch genährt, dass die Budgetausgaben für Landesverteidigung, die 2021 noch 3,6 Bill. Rubel betragen hatten, 2024 auf 10,8 Bill. (110 Mrd. Euro) hochsprangen. Sie wird auch dadurch genährt, dass die Russen, deren real verfügbare Einkommen auch wegen des Arbeitskräftemangels deutlich steigen, wieder an eine Stabilität glauben und eifrig Konsumkredite aufnehmen. Dies tun sie, obwohl der Leitzins bei hohen 16% steht, um die Wirtschaft abzukühlen und die Inflation, die offiziell annualisiert gut 8% erreicht hat, einzufangen – Wjugin zufolge liegt die Inflation hingegen bei bis zu 40%. „Kreditzinsen von 20% schrecken die Menschen nicht mehr“, sagte Natalja Subarewitsch, Ökonomin der Moskauer Staatlichen Universität, in einem Interview. Und auch die Unternehmenskredite nehmen zu.
„Ziemlich ungewöhnlich“ sei die Situation, in der ein starkes Wachstum der Ersparnisse mit Konsumaktivität einhergehe und der Arbeitskräftemangel das Produktionswachstum beschränke, sagte Zentralbankchefin Nabiullina im April. Der Internationale Währungsfonds erwartet für 2024 abermals hohe 3,2% BIP-Wachstum. Der Dampfkessel kocht also weiter.