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Wie künstliche Intelligenz die Arbeit in Kanzleien verändert

Künstliche Intelligenz hält in immer mehr Kanzleien Einzug. Noch gibt es für den Einsatz der Technologie enge Grenzen. Doch sie hat das Potenzial, ganze Preisgefüge zu verändern.

Wie künstliche Intelligenz die Arbeit in Kanzleien verändert

Der virtuelle Kollege

Künstliche Intelligenz hält in immer mehr Kanzleien Einzug. Noch gibt es für den Einsatz der Technologie enge Grenzen. Doch sie hat das Potenzial, ganze Preisgefüge zu verändern.

Von Sabine Reifenberger, Frankfurt

Nächtelanges Übersetzen von Schriftstücken, stundenlanges Aktienstudium, aufwendige Recherche in Verträgen – viele Juristen haben sich im Laufe ihrer Karriere bereits mit unliebsamen Fleißaufgaben herumschlagen müssen. Zumindest manche dieser Tätigkeiten lassen sich immer besser automatisieren. Zwar sind Legal-Tech-Anwendungen für Juristen kein neues Thema, doch seit der OpenAI-Bot ChatGPT vor gut einem Jahr seinen Siegeszug angetreten hat, haben Anwendungen mit künstlicher Intelligenz (KI) noch einmal neuen Schub erfahren.

„Die Angebote sind überraschend leistungsfähig, wenn es darum geht, juristische Texte und Dokumente zusammenzufassen und strukturiert zu erklären“, sagt Tom Braegelmann. Der Jurist der Kanzlei Annerton beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Einsatz von Technologie in Kanzleien und hat zeitweise selbst bei einem Legal-Tech-Unternehmen gearbeitet. Eine hundert Seiten starke Entscheidung der Bundesnetzagentur beispielsweise könne ChatGPT binnen kürzester Zeit verständlich zusammenfassen – mit einem großen Aber: „Man muss alle Ergebnisse überprüfen“, betont Braegelmann. „Die Einarbeitung in einen Sachverhalt gelingt jedoch schneller, wenn man bereits eine Zusammenfassung hat.“

Die Wirtschaftskanzlei Allen & Overy nutzt mehrere KI-Tools, unter anderem Harvey, das speziell für den Rechtskontext trainiert wurde. Harvey basiert wie die jüngste Version von ChatGPT auf GPT4 von OpenAI. „Man kann Harvey Rechtsfragen wie ‚Was ist die Rechtsnatur des Bankgeheimnisses im deutschen Recht?‘ stellen und sich Quellen nennen lassen, um das Ergebnis wie beim traditionellen Prozess ohne den Einsatz von KI zu überprüfen“, erklärt Associate Niklas Germayer. Auch das „Füttern“ der KI mit vorhandenen Dokumenten funktioniere immer besser. Dabei werden Suchergebnisse nicht aufgrund des KI-Modells in Verbindung mit dem Internet kreiert, sondern primär auf Basis der Informationen im Dokument selbst. Das Tool sei dabei durch die Nutzung von GPT4 deutlich leistungsfähiger als die Vorgängerversionen.

Breitere Anwendung

Eine sorgfältige Kontrolle hält aber auch Germayer für zwingend. Für Alexander Behrens, Partner bei Allen & Overy, sind die rasanten Entwicklungen bei KI ein zweischneidiges Schwert: „Einerseits sind die Anwendungen eine gute Hilfe. Aber natürlich gibt es bei einigen Anwälten die Sorge, dass die Technologie Anwaltstätigkeiten irgendwann einmal komplett ersetzt.“ Davon sei man aber weit entfernt. Selbst leistungsstarke KI-Modelle könnten die anwaltliche Arbeit zum jetzigen Zeitpunkt nicht ersetzen, sind die Juristen überzeugt. Vielmehr gehe es um Unterstützung und die Automatisierung von stark standardisierten Tätigkeiten.  

Eric Wagner, Partner bei Gleiss Lutz, sieht die breiteren Anwendungsmöglichkeiten als größten Fortschritt der jüngsten Generation an KI-Tools. „Bislang waren viele Legal-Tech-Angebote stark auf einzelne Anwendungsbereiche wie Texterkennung oder Datenauswertung fokussiert“, sagt er. Die neue Generation könne unterschiedliche Aufgaben erfüllen, ohne dass der Jurist dafür zwischen verschiedenen Anwendungen wechseln muss. „Das erhöht die Akzeptanz im Kollegium und führt zu mehr Routine in der Handhabung – und damit auch zu besseren Ergebnissen“, sagt Wagner.

Perspektivisch könnte die Technik dazu führen, dass Kanzleien vermehrt zu Festpreisen übergehen.

Tom Braegelmann, Annerton

Marc Geiger leitet in der Kanzlei den Bereich Legal Operations & Business Technologies. Dort arbeiten rund 80 Beschäftigte, die etwa Trainings zu KI und Legal Tech geben, aber auch eigene digitale Lösungen entwickeln und die Cybersicherheit im Blick behalten. Für Geiger sind die Anwendungen der jüngsten Generation mit generativer KI eine Art Universalplattform: „Die Anwälte nutzen sie wie ein Assistenzsystem. Das Interesse sowie die Einsatzmöglichkeiten sind groß.“

KI könnte nicht nur die Arbeitsweise verändern, sondern auch die Art und Weise, wie Juristen bezahlt werden. Bislang ist der Stundensatz für die Bezahlung juristischer Dienste das Maß der Dinge. Doch gerade langwierige Routinetätigkeiten, beispielsweise Übersetzungen, kann eine KI gut vorbereiten. Die abrechenbaren Stunden sinken dadurch. „Perspektivisch könnte die Technik dazu führen, dass Kanzleien vermehrt zu Festpreisen übergehen“, erwartet Tom Braegelmann.

Mandanten fragen nach KI-Tools

Noch seien die KI-Tools nicht so weit, dass man in hohem Maße Effizienzgewinne realisieren könne, sagt Eric Wagner von Gleiss Lutz. Je besser die Systeme würden, umso stärker werde aber auch der Veränderungsdruck im Markt. Einerseits haben die Kanzleien hohe Investitionskosten, um die Technologien anzuschaffen. Doch wie viel ist ein Mandant zu zahlen bereit, wenn Schriftsätze zumindest in Teilen maßgeblich von einem Algorithmus erstellt worden sind? „Da besteht zurzeit ein Ungleichgewicht“, räumt Wagner ein.

Er glaubt allerdings, dass sich manche Mandate ohne Investitionen in neue Technologien vermutlich gar nicht mehr gewinnen ließen: „Viele Mandanten fragen in Pitches gezielt danach, welche Legal-Tech- und KI-Tools die Kanzlei im Einsatz hat.“ Wagner kann sich vorstellen, dass sich das Preisgefüge stärker zu Festpreisen verschiebt, die den Einsatz von KI-Tools für bestimmte Anwendungsfälle mit abbilden. „Vielleicht kommen wir sogar dahin, dass Mandanten eine gewisse Fehlerquote im Interesse von Effizienzsteigerungen akzeptieren.“

Die KI kann kein Jura. Sie kann Daten gut interpretieren.

Marc Geiger, Gleiss Lutz

Ohne Juristen wird es auch künftig nicht gehen – allerdings verschieben sich die Bereiche, in denen sie Mehrwert bieten können. Sprachliche Klarheit beispielsweise könnte als Differenzierungskriterium weniger wichtig werden. Denn die sprachlich ansprechende Aufbereitung von Sachverhalten kann eine KI leisten. „Die Leistung wird darin bestehen, ein passendes KI-Tool für beispielsweise repetitive Arbeiten einzusetzen, um effizienter zu arbeiten und an anderen Stellen Freiraum zu schaffen“, erwartet Wagner. Denn die KI bleibt letztlich eine Technologie. „Die KI kann kein Jura. Sie kann Daten gut interpretieren“, betont sein Kollege Marc Geiger.

Ohne Daten wird’s schwer

Wenn ein Sachverhalt sich nicht auf Daten herunterbrechen lässt, stößt die KI allerdings schnell an Grenzen: „Manche Sachverhalte muss man einschätzen, ohne dass eine Datenbasis vorliegt. Das erfordert dann Erfahrungswissen“, sagt Braegelmann. „Juristen sind erfahren im Umgang mit Behörden, sie kennen die örtlichen Arbeits-, Insolvenz- und weiteren Gerichte, und sie können bei Streitigkeiten unter Gesellschaftern vermitteln. Für diesen Mehrwert wird es weiterhin eine Zahlungsbereitschaft bei Mandanten geben“, ist der Jurist sicher.

Bei allem Interesse an den neuen Möglichkeiten – einfach so drauflos probieren, wie es private Nutzer mit ChatGPT tun, können Juristen nicht. Datenschutz und Anwaltsgeheimnis setzen der Anwendung von KI-Tools enge Grenzen. Bei Allen & Overy sind KI-Tools so programmiert, dass sie grundsätzlich keine Daten speichern, das Prinzip heißt „zero data retention“. „Das Tool lernt nicht anhand der Daten“, erklärt Partner Behrens.

Bei heutigen KI-Modellen geht es auch nicht mehr primär um eine große Masse an Daten, erklärt Marc Geiger von Gleiss Lutz. Das liegt an der Arbeitsweise: Erste Ansätze im Machine Learning nutzten numerische Tabellen, um Wörter darzustellen. Beziehungen zwischen Wörtern konnten die Tools nicht abbilden – sie erkannten beispielsweise nicht, wenn zwei Wörter eine ähnliche Bedeutung hatten. Bei Large Language Models (LLM), die heute im Einsatz sind, werden solche Beziehungen durch Worteinbettungen mit Hilfe von Vektoren dargestellt. Vereinfacht gesagt stehen Wörter, die ähnliche Bedeutungen haben, im Vektorraum näher beieinander als andere. „Bei Machine Learning galt der Grundsatz: Je mehr Daten, desto besser wird der Algorithmus“, sagt Geiger. „Bei LLM-Tools dagegen kann man die Qualität der Ergebnisse auch verbessern, indem man bestimmte Vektoren anders gewichtet. Die Datenmenge ist weniger ausschlaggebend.“ Derzeit laufen gerade bei großen Kanzleien viele Projekte, um Anwendungsfälle für künstliche Intelligenz zu erproben. Hogan Lovells hat beispielsweise gerade mit ihrer Legal-Tech-Tochtergesellschaft Eltemate den Chatbot „Eltemate Craig“ entwickelt. Er soll in der Lage sein, juristische Texte zu entwerfen und große Mengen an Informationen strukturiert zusammenzufassen. Auch KPMG Law arbeitet mit einem KI-gestützten eigenen Chatbot.

Zwischen Faxgerät und Legal-Tech-Tools

Allerdings gilt die Welt der Justiz nicht als digitaler Vorreiter, wohl kaum eine Branche nutzt noch derart intensiv das Faxgerät. Um KI in der Breite zu etablieren, müssen Juristinnen und Juristen die Technologie nutzen. „Es gab in den vergangenen Jahren einige Fälle, in denen Kanzleien euphorisch in Legal-Tech-Tools investiert haben, die dann von den Beschäftigten links liegengelassen wurden“, berichtet Braegelmann, der auch Schulungen zum Einsatz von KI für Juristen anbietet. Oft steckten hinter der Zurückhaltung auch Unsicherheit oder Angst, sich auf Neues einzulassen. Doch die Sorge, von einer künstlichen Intelligenz bloßgestellt zu werden, müsse niemand haben: „Der Algorithmus kann nicht mehr als der Jurist. Er kann aber dem Juristen helfen, Zeit zu sparen.“

Bei Allen & Overy nutzen derzeit täglich 800 bis 900 der insgesamt 3.000 Anwälte eine KI-Anwendung. „Das ist schon eine recht gute Quote“, sagt Behrens. Dabei hat ein einfacher Kniff die Nutzungszahlen deutlich nach oben getrieben: „Die ersten KI-Tools liefen in einem separaten Browser und wurden deutlich weniger beachtet“, erinnert sich Behrens. Mittlerweile hat die Kanzlei ihre eigenen KI-Anwendungen namens „Contract Matrix“ entwickelt und direkt in Word integriert.

Es geht nicht darum, den Nutzer zur Technologie zu bringen. Erfolgversprechender ist es, wenn die Technologie zum Nutzer kommt.

Alexander Behrens, Allen & Overy

Die Zugriffe auf das Vertragsverhandlungstool, das die Kanzlei auch Mandanten zur Verfügung stellt, seien seitdem stark gestiegen, das Tool könne leichter in Transaktionen verwendet werden. Für Behrens eine wichtige Erkenntnis: „Es geht nicht darum, den Nutzer zur Technologie zu bringen. Erfolgversprechender ist es, wenn die Technologie zum Nutzer kommt.“


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