Wie viel Anwendungsvorrang darf es denn sein?
Das spektakuläre Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Anleihekaufprogramm PSPP der Europäischen Zentralbank (EZB) liegt zwar mittlerweile schon zweieinhalb Jahre zurück, und auch das Vertragsverletzungsverfahren, das die EU-Kommission daraufhin gegen Deutschland eingeleitet hat, hat die Brüsseler Behörde längst zurückgezogen. Dennoch halten die Debatten darüber noch immer an, wie gerade in diesen Tagen in Brüssel wieder zu beobachten ist – nicht allein wegen der unheilvollen Vermengung des Ringens Karlsruhe vs. Straßburg mit dem Streit über das polnische Justizsystem.
Auf jeden Fall ist das Kompetenzgerangel innerhalb des europäischen Verfassungsgerichtsverbunds – ein Begriff, den einst Andreas Voßkuhle, Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts, prägte und der das Beziehungsgeflecht von EuGH, nationalen Verfassungsgerichten sowie Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) beschreibt – noch längst nicht geklärt. Im Kern geht es immer noch um die Frage, ob Urteile des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) einen absoluten Anwendungsvorrang gegenüber der nationalen Rechtsprechung haben.
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Eine hochrangig besetzte Expertenrunde am Donnerstag in der Bayerischen Landesvertretung in Brüssel zeigte einmal mehr, dass die Antwort auf diese Frage vielschichtig ausfallen kann. So verwies etwa Peter M. Huber, Richter am Bundesverfassungsgericht, darauf, dass Karlsruhe bereits in seinem Maastricht-Urteil die EU als Staatenverbund charakterisiert habe, was in der Rechtsprechung keine Aussage à la „Ober sticht Unter“ zulasse. Die Kompetenzen des EuGH endeten dort, wo die EU-Verträge endeten. Unterstützung erhielt Huber in dieser Frage vom bayerischen Justiz-Staatsminister Georg Eisenreich. Der Vorrang des Unionsrechts sei zwar verfassungsrechtlich verankert, aber auch verfassungsrechtlich begrenzt, betonte der CSU-Politiker. Und Angelika Nußberger, frühere EGMR-Vizepräsidentin, stellte aus ihrer Sicht klar: „Einen Letztentscheider gibt es nicht.“
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Doch was ist jetzt der Ausweg? Die Idee, eine Art Kompetenzgerichtshof aus der Mottenkiste der Geschichte zu holen, hält Huber für „dummes Zeug“. Auf mehr Gegenliebe scheint im Expertenkreis dagegen die Forderung zu stoßen, den EuGH zu einer stärkeren Beachtung von Subsidiarität zu bringen – ein Thema, das in bisherigen Urteilen der Straßburger Richter so gut wie gar keine Beachtung gefunden hat. Christoph Grabenwarter, der Präsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, wünscht sich zugleich, dass das EuGH auch stärker die Dialogrichtung umdreht und in bestimmten Fragen die nationalen Verfassungsgerichte konsultiert.
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Wichtig ist es Grabenwarter aber zu betonen, dass die Kritik der Kollegen aus Karlsruhe am EuGH in keiner Weise mit der Sichtweise in Polen verglichen werden dürfe, die einen Anwendungsvorrang des Europarechts und die Kompetenzen des EuGH grundsätzlich ablehnt. Vor einem Jahr hatte das Warschauer Verfassungsgericht ja relativ klar dem polnischen Recht Vorrang vor dem europäischen eingeräumt. Die polnische Regierung hatte das Urteil unter anderem mit einem Verweis auf das PSPP-Urteil aus Karlsruhe verteidigt.
Auch hier ist eine Antwort nicht einfach. Ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen einzuleiten, bei dem schlussendlich der EuGH in eigener Sache urteilt, scheint nicht zielführend zu sein. Juliane Kokott, seit 2003 deutsche Generalanwältin am Gerichtshof der Europäischen Union, stellte in diesem Zusammenhang die Frage, ob man europäische Werte tatsächlich mit Gewalt und der Hilfe des EuGH durchsetzen sollte. Oder müsse man nicht aufpassen, dass die Fliehkräfte in der EU nicht zu groß würden? Die Debatte, wie es denn mit dem Verfassungsgerichtsverbund weitergeht, ist längst nicht zu Ende.