Ukraine-Konflikt

Wirtschaft der Ukraine in erstaunlicher Blüte

Die ukrainische Wirtschaft hat sich umorientiert: weg von Russland, hin zur EU. Die Kriegsgefahr bremst. Ist sie einmal vorbei, sollte vor allem ein neuer Sektor noch viel von sich reden machen.

Wirtschaft der Ukraine in erstaunlicher Blüte

Von Eduard Steiner, Moskau

Rar sind sie geworden, die ukrainischen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in Russland. Dabei waren sie beliebt wie kaum jemand. Und sie fuhren gern hin – konnten sie doch im Boom bis 2013 so gut verdienen wie in der EU, falls sie dort überhaupt eine Arbeitsgenehmigung bekamen. Seit 2014 ist alles anders: Just im Jahr, als Russland völkerrechtswidrig die Krim annektierte, schloss die Ukraine das Assoziierungsabkommen mit der EU. Seitdem zieht es Gastarbeiter aus der Ukraine als Erntehelfer oder Bauarbeiter nach Polen und weiter bis nach Portugal.

Die Wirtschaft der Ukraine hat sich geografisch gedreht. Nachdem lange Russland der wichtigste Handelspartner gewesen war, ist es nun die Europäische Union. „Die Umorientierung war schmerzhaft“, sagt Wolodymyr Dubrowskyi, Chefökonom des Wirtschaftsforschungsinstituts Case Ukraine, zur Börsen-Zeitung: „Heute ist sie weitgehend abgeschlossen.“

Dabei war die Abwendung von Russland nie das Ziel gewesen. Vielmehr wollte man aus der geografischen Zwischenlage Profit schlagen, indem man von der EU verwöhnt wurde und von Russland, mit dem man über diverse Freihandelsabkommen verbunden war, auch Rohstoffe günstig bezog. Doch hatte man sich bei Russlands Machthaber Wladimir Putin verschätzt. Heute besteht ein wirtschaftlicher Bruch nicht nur mit Moskau, sondern auch mit den östlichen Separatistenrepubliken Donezk und Lugansk. Inzwischen droht ein offener Krieg mit Russland.

Symbolfigur Rinat Achmetow

Lange hatte es den Anschein gehabt, dass die Ukraine ohne diese beiden Republiken wirtschaftlich nur schwer vorankommen würde, befindet sich doch gerade in diesen beiden Gebieten die Schwerindustrie mit Kohleförderung, Stahlproduktion und Maschinenbau. Der Großteil gehörte dem in Donezk geborenen Tataren Rinat Achmetow. Ihm, der aus pragmatischen Gründen für die Hinwendung zur EU war, weil er sich von dort mehr Modernisierungsschub und Geschäft versprach, haben die Separatisten später seine Fabriken weggeschnappt.

Dennoch ist der heute 55-Jährige, der sich immer mit allen politischen Akteuren geschickt arrangiert und nur bei den Separatisten verschätzt hat, der reichste Ukrainer geblieben, seit zwei Jahrzehnten. Geschätztes Vermögen: 7,6 Mrd. Dollar. Mit seinem krakenhaften Mischkonzern System Capital Management überzieht Achmetow von der Hauptstadt Kiew aus das Land und besitzt außerdem noch immer den – aus Donezk vertriebenen – Fußball-Erstligisten Schachtar Donezk.

Nicht alle sind nach ihren Verlusten so fein raus wie Achmetow, an dessen Person die Zweiteilung des Landes sichtbar wird. Etliche Jahre nach dem Bruch zwischen den Separatistengebieten und der Restukraine lässt sich festhalten, dass die Anpassung an die neuen Realitäten ein unerwartetes Ergebnis gezeitigt hat: Die Separatistengebiete seien schwer in Mitleidenschaft gezogen, weil die industrielle Produktion zusammengebrochen sei, schrieb Sabine Fischer von der Stiftung für Wissenschaft und Politik schon 2019 in einer Analyse. Demgegenüber seien für die Ukraine „die wirtschaftlichen Auswirkungen weniger hart als zunächst befürchtet“ gewesen.

Gewiss, an die Jahre 2014 und 2015, als die Wirtschaft im ersten Schock um −6,6 bzw. −9,8% implodiert ist, will sich lieber niemand erinnern. Da mit den separatistischen Gebieten aber nicht nur die dortige Wirtschaftsleistung, sondern auch fünf Millionen Einwohner weggefallen sind, hat das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf der heute etwa 42 Millionen Ukrainer das Niveau von 2013 wieder überschritten. Natürlich bleibt die rohstoffarme Ukraine im Vergleich zu Russland, dessen Wirtschaft fast zehnmal größer ist, ein Armenhaus. Doch betrug das BIP pro Kopf nach Kaufkraftparität 2020 immerhin gut 13000 Dollar, während es in Russland nur gut doppelt so hoch war.

Ohne die schätzungsweise drei Millionen ukrainischen Gastarbeiter im Ausland wäre diese wirtschaftliche Blüte nicht möglich – genauer gesagt ohne jene umgerechnet 15 Mrd. Dollar, die sie 2021 an Angehörige und Bekannte in der Heimat transferiert haben. Diese Rücküberweisungen entsprechen mehr als 7% des Bruttoinlandsprodukts. Und sie sind in ihrer Bedeutung vergleichbar mit den Einnahmen aus dem Export von Getreide, dem wichtigsten Ausfuhrgut des Landes.

Weil die Exportpreise für Getreide und Erze steil angezogen hatten, war die ukrainische Wirtschaft schon im ersten Pandemiejahr 2020 mit einem BIP-Minus von 4% relativ glimpflich davongekommen. 2021 wurden mit einem Wachstum von geschätzt 3,2 bis 3,5% die Erwartungen leicht unterschritten (siehe Grafik). Das liege nicht nur an den Spannungen mit Russland, sondern an der hausgemachten Verschlechterung des Geschäftsklimas, erklärt Ökonom Dubrowskyi: Da der junge Staatspräsident, ein Quereinsteiger, schwach sei, hätten dirigistische Beamte ihren Einfluss erhöht. Der Steuerdruck sei hoch, die Staatsausgaben exorbitant, der Staatseinfluss in der Wirtschaft gestiegen. Dazu kommen große Korruptionsprobleme.

Investoren schrecken zurück

Zuversicht macht ein struktureller Wandel. In der Entwicklung der Informations- und Kommunikationsindustrie wird dies deutlich: Sie steuert bereits 5% zum BIP bei, ist ein wichtiger Wachstumstreiber und ein Magnet für ausländische Direktinvestitionen ist. Auf diesem Sektor ruhen große Hoffnungen – und auf einem Ende der Kriegsgefahr. Denn mit den Direktinvestitionen steht es freilich nicht zum Besten. Mit 5,5 Mrd. Dollar – dem Niveau wie vor zehn Jahren – blieben sie 2021 weit hinter dem Wert in der Mitte der Nullerjahre zurück. Damals, nach der Orangen Revolution, herrschte Aufbruchsstimmung. Seit 2014 kann die nur schwer aufkommen. Die Kriegsgefahr liege wie ein Schatten über dem Land, sagt Dubrowskyi: „Sie bindet nicht nur Ressourcen für Armee und Sicherheit, sie schreckt auch potenzielle Investoren ab.“

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