Zeit der Sprachen und des Fluchens
Es nun genau 260 Jahre her, dass die deutschstämmige russische Zarin Katharina die Große das Manifest erließ, in dem die aktive Ansiedlung von Ausländern ausdrücklich erlaubt, ja gewünscht wurde. Die anfänglichen Reaktionen im Westen waren wider Erwarten verhalten, weshalb die Zarin mit einem zweiten Manifest nachlegen musste, in dem gezielt die Ansiedlung deutscher Bauern entlang der Wolga ermöglicht wurde. Man musste den Menschen aus dem Westen schon was bieten, damit sie das immer größer werdende Reich bevölkerten und vor allem Know-how mitbrachten. Von Steuern und Abgaben wurden sie befreit, die Unternehmensgründung wurde unterstützt, kostenloser Wohnraum zur Verfügung gestellt.
Neben dem Know-how sollten die Immigranten wohl auch die Sitten verändern und mehr Aufklärung ins Land bringen. Katharina der Großen schwebte nämlich vor, dass ganz nach der Idee Voltaires die Staaten durch wirtschaftliche, kulturelle und rechtsstaatliche Entwicklung von sich reden machen und nicht durch Kriege.
Eines der schönsten und erheiterndsten Dokumente aus dieser Zeit ist das Buch „Der russische Colonist“ von Christian Gottlob Züge. Falls noch jemand Weihnachtsgeschenke sucht: Hierin erzählt einer, der 1764 nach Russland ging – quasi vom frühen Kampf der Kulturen – und zwar ausgehend von beiden Seiten. Kulturell, sprachlich, in der Arbeitsauffassung, im Freizeitverhalten – kurz: überall begegnete man einander mit Interesse und mit Skepsis gleichermaßen. Am Ende floh Züge wieder aus Russland.
Das taten dieses Jahr ja auch viele Russen – gleich nach Kriegsbeginn und dann aus Angst, in den Krieg eingezogen zu werden, ab Herbst. Mit dem Effekt, dass die Nachfrage nach Sprachkursen in Russland förmlich explodiert ist, wie das Wirtschaftsmedium RBC kürzlich berichtete. Gegenüber Januar und Februar schnellte im März und April die Nachfrage nach Ivrit-Lehrern um 206%, nach Georgisch-Lehrern um 198%, nach Serbisch-Lehrern um 184% und nach Chinesisch-Lehrern um 109% hoch. Im Oktober eine ähnliche Welle. Im Vergleich zum Vorjahr liegt Serbisch gemessen an der Lehrernachfrage mit +278% vor Georgisch mit 188%, Ivrit (+164%) und Türkisch (+108%).
*
Apropos Sprache: Eine Spezialform davon ist ja das Fluchen. Und dies geschieht in Russland gerne mit sexuellen Schimpfwörtern, während im Deutschen eher auf fäkale Ausdrücke zurückgegriffen wird. Die Russen sind zudem stolz darauf, dass sie durch zahlreiche Abwandlungen der vier wichtigsten obszönen Grundwörter, die wohlgemerkt im öffentlichen Gebrauch verboten sind, quasi eine Parallelsprache aufgebaut haben.
Was den Gebrauch dieser Wörter in sozialen Netzwerken betrifft, so hat nun die Agentur „Soziale Netzwerke“ eine eigenwillige Statistik erstellt, in die ebenfalls das Medienhaus RBC Einsicht nahm. Ausgehend von der Tatsache, dass die Betreiber der sozialen Netzwerke seit Februar 2021 Postings mit solchen Wörtern entfernen müssen, zeigt die Statistik auf, an welchen Tagen die Russinnen und Russen am meisten geflucht haben. Und siehe da: Es war gar nicht – wie man hätte erwarten können – der 21. September, an dem Staatspräsident Wladimir Putin die Teilmobilmachung, also die Zwangseinberufung von 300000 jungen Männern in den Krieg, verkündete. Zwar wurden an diesem Tag sehr wohl viele, nämlich 250000, Postings mit verbotener Lexik registriert.
Aber im Vergleich zu den ersten Tagen nach Kriegsbeginn Ende Februar, als die Anzahl auf das Zweieinhalbfache des Üblichen hochschnellte und am 27. Februar 375000 erreichte, war das nichts. Am 12. März dann, als das vierte EU-Sanktionspaket beschlossen worden war, wurde in 280000 Postings der Unmut mit verbotenen Ausdrücken geäußert. Und am 6. April ganze 270000. Der Grund war hier Beobachtern zufolge allerdings nicht der Krieg, sondern der Tod von Wladimir Schirinowski. Der ulkige Politrabauke war Gründer und von 1991 bis zu seinem Tod Vorsitzender der deutlich rechts von Putin stehenden russisch-nationalistischen Partei LDPR.