Moskau

Zwei Welten – und wie man subtil Zensur umgeht

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine schafft auch in Russland neue Realitäten – und Parallelwelten.

Zwei Welten – und wie man subtil Zensur umgeht

Jüngst auf einer Wiedersehensfeier alter Jugendfreunde in Moskau. Gleich drei von ihnen – vor Jahren schon emigriert – waren aus den USA, Paris und München in ihre alte Heimat gekommen, um in Erinnerungen zu schwelgen. Genau zum Kriegsausbruch waren sie nach Moskau geflogen, um mit den dortigen Schulkollegen zu feiern. Da saß man nun den ganzen Abend, erzählte einer davon später. Und worüber wurde so geredet? Wie die drei angesichts der diversen Luftraumsperrungen denn wieder aus dem Land rauskämen. Einige Stunden wurde beraten, weil auf dem direkten Wege nichts mehr ging und geht. Am Ende gab es für jeden eine Lösung. Derjenige mit Ziel Amerika konnte immerhin einen Flug nach Istanbul ergattern, wo er sich dann um weitere Verbindungen umsah. Die Rückreise nach Paris war eine wahre Odyssee: zuerst mit dem Zug 705 Kilometer von Moskau nach Petersburg, dann mit dem Bus 390 Kilometer beziehungsweise fünf Stunden elf Minuten nach Helsinki. Und von dort mit dem Flugzeug nach Paris. Kompliziert verlief die Fahrt auch für den russlandstämmigen Münchner.

Es ist alles unendlich kompliziert geworden in und um Russland. Bagatellen im Vergleich zur Kriegskatastrophe in der Ukraine. Und doch erste Hinweise auf die Zustände, in die die russische Staatsführung mit ihrem Angriffskrieg auch die eigene Bevölkerung zurückversetzt hat. Was an internationalen Beziehungen über drei Jahrzehnte zum Funktionieren gebracht wurde, ist mit einem Schlag in Frage gestellt. Eine neue Realität.

Das russische Staatsfernsehen lebt freilich in seiner eigenen Wirklichkeit: Russland befreie gerade die Ukraine von einem Naziregime, lautet dort die Botschaft. Russland wehre sich gegen die Feindseligkeit des Westens. Und vor allem in den USA gehe es wirtschaftlich bergab, die Menschen würden unter den extremen Kraftstoffpreisen stöhnen. Nur äußerst selten wird das Bild gestört, wenn jemand sich erdreistet, in einer Live-Sendung von der Linie abzudriften. Da muss dann der Moderator eingreifen und die offizielle Sichtweise lautstark in die Kamera skandieren.

Wie tief man in der Parallelwelt versunken sein kann, zeigte dieser Tage ein anderes Ereignis. Wie vor einiger Zeit mit den Wirtschaftstreibenden traf sich Präsident Wladimir Putin online auch mit Vertretern russischer Kulturschaffender. Waleri Gergijew, der kürzlich den Posten als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker verloren hat, weil er sich nicht vom Krieg dis­tanziert hatte, war geladen. Dazu staatlich ausgezeichnete junge Künstler. Wie die Tageszeitung „Kommersant“ berichtet, meldete sich beim Treffen auch die 30-jährige Sofia Kiprskaja, erste Harfenistin am St. Petersburger Mariinski-Theater, zu Wort. Sie freue sich so auf das Festival „Nördliche Lyra“ in St. Petersburg im April, habe sie unschuldig, wie sie sei, zu Putin gesagt: „Da kommen Musiker aus der ganzen Welt zusammen.“ Er fürchte, dass das eher nicht der Fall sein werde, schreibt der für seinen süffisanten Stil bekannte Kreml-Korrespondent des „Kommersant“, Andrej Kolesnikow. „Man hat sicher nur vergessen, ihr zu sagen, was rundum gerade passiert. Vielleicht wollten sie ihr ja nicht die Stimmung verderben.“

In Zeiten, in denen es nichts zu lachen gibt, entsteht Komik offenbar unabsichtlich. Entsprechend subtil und kunstvoll zweideutig gibt der alte Journalisten-Fuchs Kolesnikow die Situationen wieder und deutet angesichts der Zensur den Lesern leise an, wie wenig er von der Runde im Kreml, dem Krieg und wohl auch seinem Initiator hält. Gänzlich pikant wird die Situation, als Putin bei der Konferenz erzählt, er habe durch die Aufzeichnungen seines Großvaters kapiert, wie der Weltkrieg einst auf die Menschen wirkte. Diese Steilvorlage nützt Kolesnikow, um entgegen allen erlassenen Verboten den Ukraine-Krieg auch als „Krieg“ zu bezeichnen und die Folgen zu umreißen. „Sehen Sie“, schreibt der Journalist: „Wladimir Putin versteht sehr wohl, wie sich der Krieg auf das Schicksal von Millionen Menschen auswirkt. Wie er sie bricht. Und dass auch die, die nicht gestorben oder verwundet sind, keine Chance haben, ihr altes Leben zurückzubekommen.“

Ein Lehrstück, wie man wenigstens für kurze Zeit die Zensur umgeht. Und damit zwischen der Realität und der Parallelwelt einen Kommunikationskanal herstellt.

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