Alte Stühle und gute Unternehmensführung
Von Claus Döring, Frankfurt
„Wie kann man sich auf eine so wertvolle Antiquität setzen?“, soll es Hasso Plattner entfahren sein, vor zwanzig Jahren in seinem Sommerhaus auf Sylt. Denn kaum dass sich das SAP-Führungsteam beim Mitgründer, Großaktionär und damaligen Co-Chef des Softwarekonzerns zum Strategiemeeting in Plattners Haus versammelt hatte, war der Stuhl unter dem Neuling in der Runde, Finanzvorstand Werner Brandt, zusammengebrochen. Dessen umgehende Antwort war so nüchtern, analytisch korrekt und auf den Punkt, wie man es von einem gelernten Wirtschaftsprüfer erwarten durfte: „Der Stuhl sollte besser in einem Museum stehen.“
Mit dieser Anekdote und dem Sinnbild vom zerstörten, weil zu alten und nicht mehr funktionsfähigen Stuhl würdigte und charakterisierte Jim Hagemann Snabe, Vorsitzender des Siemens-Aufsichtsrats und einst Co-Chef von SAP, seinen „Ratgeber und Freund“ Werner Brandt anlässlich der Verleihung des DSW-Preises für gute Unternehmensführung.
Schmitz folgt auf Brandt
Es war das 11. Mal, dass die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz diese Auszeichnung verlieh – und die Liste der bisherigen Preisträger und Laudatoren liest sich wie das „Who is who“ der deutschen Wirtschaftsführer. Pandemiebedingt fand diese 11. Preisverleihung nicht wie ursprünglich geplant im November 2020 statt, sondern erst jetzt. Und es war für viele der knapp hundert Teilnehmer im Industrieclub in Düsseldorf seit vielen Monaten die erste wieder physisch besuchte Veranstaltung. Für dieses Jahr hofft DSW-Präsident Ulrich Hocker wieder auf den traditionellen Rhythmus. Mit Ex-RWE-Chef Rolf Martin Schmitz steht der Preisträger bereits fest, und mit dem ehemaligen Hochtief-Chef und BDI-Präsident Hans-Peter Keitel auch der Laudator.
Gerade erfolgreiche Unternehmen, so Hagemann Snabe in seiner Laudatio, neigten oftmals dazu, zu lange an alten Stühlen zu kleben, in der falschen Annahme, damit Risiken zu minimieren. An alten Stühlen habe Brandt nie geklebt. Den langjährigen ehemaligen SAP-Finanzvorstand (von 2001 bis 2014) und heutigen Aufsichtsratsvorsitzenden von RWE und ProSiebenSat.1 Media zeichne der Mut zu Veränderung und neuen Herausforderungen aus sowie die Fähigkeit, diese auch zu lösen. Snabe erinnerte an Brandts Wechsel von der Medizintechnik zur Softwarebranche, als er nach Stationen bei PwC, Baxter und Fresenius Medical Care im Jahr 2001 als CFO zu SAP ging und er dort nach dem Platzen der Dotcom-Blase viele Jahre ein stürmisches Wachstum mit vier großen Akquisitionen und dem Umstieg vom Lizenz- zum Cloudgeschäft finanziell absichern musste. Mit Ehrlichkeit und Transparenz habe Brandt, der bei SAP auch Personalvorstand war, das Vertrauen aller Stakeholder gewonnen und die Voraussetzung für Veränderungen geschaffen. Dies gelte nicht zuletzt für die Transformationen bei ProSieben, RWE oder auch Siemens, wo Brandt im Aufsichtsrat eng mit Snabe zusammenarbeitet und dem Prüfungsausschuss vorsitzt.
Lehren aus Wirecard
Wie sehr Brandt die Themen Rechnungslegung und Corporate Governance umtreiben, wird nicht nur aus seinen Mandaten deutlich: bis Ende 2020 Trustee der IFRS Foundation und seit Jahresbeginn Mitglied der Regierungskommission Corporate Governance. Es zeigte sich auch in seiner Dankesrede zum DSW-Preis. Die Causa Wirecard sei ein „Lehrstück für kollektives Versagen“ auf fünf Ebenen, wobei Brandt insbesondere kritische Worte zur Antwort des Gesetzgebers in Gestalt des Gesetzes zur Stärkung der Finanzmarktintegrität (FISG) fand. Neben der fehlenden Verpflichtung zur Einrichtung eines Compliance-Management-Systems, das von einem Wirtschaftsprüfer zu zertifizieren sei, stößt sich Brandt vor allem an der Abschaffung des zweistufigen Enforcements der Bilanzprüfung. Letztere hatte Brandt einst initiiert und zwölf Jahre an der Spitze des Trägervereins der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) begleitet. Deren Abschaffung sei eine völlig verkehrte und rein politisch motivierte Reaktion auf Wirecard – mit möglicherweise fatalen Folgen, wenn bilanzielle Korrekturen in der Öffentlichkeit wie Betrugsfälle behandelt werden.
Was er „überhaupt nicht nachvollziehen“ könne, sei der Widerstand von zwei CDU-Abgeordneten gegen die ursprünglich beim FISG vorgesehene Beibehaltung des zweistufigen Enforcements gewesen. Damit spielte Brandt auf die CDU-Politiker Heribert Hirte und Matthias Hauer an, die entgegen klaren Plädoyers aus Industrie, von Bilanzierungsexperten, Finanzministerium und sogar Gewerkschaften die Beseitigung des zweistufigen Bilanzkontrollverfahrens durch den privatrechtlichen Verein DPR betrieben und sich damit am Ende durchsetzten.
Beim Blick nach vorne treibt Brandt das Vorhaben der EU-Kommission zur Reform des Gesellschaftsrechts um: die Frage, ob und unter welchen Bedingungen eine ökologischen Zielen verpflichtete Unternehmensführung auch eine „gute“ Unternehmensführung sein kann.