Die Sprache der Häuser
Im Alten gedeiht das Neue: Die Bürostadt Niederrad in Frankfurt ist ein Sammelsurium steriler Bürogebäude, zweckmäßig gebaut und aneinandergereiht, getrennt von Straßen und gemähten Rasenflächen. Doch der 17 Etagen zählende Turm auf der Lyoner Straße 19, Baujahr 1969, ist mehr als ein Quader aus Glas und Beton, wie Arnaud Ahlborn unterstreicht, Chef der Wohnimmobilienfondsadresse Industria Wohnen. In dem einst auf Büros ausgelegten Gebäude sind heute 98 Wohnappartements untergebracht, großflächig verglast und wahlweise mit Balkon oder Blick auf die Skyline der Frankfurter Innenstadt.
Nur wenige andere Wohnhäuser sind ebenfalls im „Lyoner Quartier“ zu finden, wie die Bürostadt im Projektentwickler-Deutsch heute genannt wird. Ahlborn zeigt sich optimistisch, dass sich das gealterte Büroviertel wandeln wird. „In ein paar Jahren ist die Gegend gespickt mit Wohngebäuden.“ Ahlborn geht damit eine Wette ein: Denn ob das gutachterlich auf annähernd 29 Mill. Euro taxierte Gebäude für die Eigner des Immobilienfonds „Fokus Wohnen Deutschland“ die erhoffte Rendite bringt, hängt auch davon ab, ob das Kalkül aufgeht: Die abseits der Innenstadt liegende Bürostadt, die von der Autobahn A5 im Westen, dem Wald und dem Golfclub im Süden und der Bahntrasse im Osten eingegrenzt wird, soll sich zu einem belebten Wohnviertel entwickeln.
„Ein Kind seiner Zeit“
Ahlborn hat viel zu erzählen, wenn er durch das Gebäude führt. Im Treppenhaus bleibt er am Fenster stehen und zeigt auf die umliegenden Bürohäuser, die kostengünstig nach einfachem Schema erbaut worden seien. Die Planung der Bürostadt in den sechziger Jahren folgte auf den Wirtschaftsaufschwung und die Verbreitung des Automobils, die eine Auslagerung großer Büroflächen am Rand der Stadt attraktiv erscheinen ließ. Kein Mensch würde heute noch eine Bürostadt nach diesem Schema planen, sagt er beim Blick aus dem Fenster. „Jedes Gebäude ist ein Kind seiner Zeit.“ Die Gegenwart werde geprägt durch den Bedarf nach Wohnraum – und der Umwidmung von Stadtvierteln.
Erste Anzeichen einer Belebung des Viertels gibt es bereits: Schräg gegenüber am Fuß eines weiteren Zweckbaus spannen sich die Sonnenschirme eines Lokals, während sich gleich neben dem Turm der Industria ein Neubau mit Wohnungen breitmacht, dessen große Balkone Variation in die Tristesse der Bürostadt bringen. Es sind grüne Pflänzchen im toten Gehölz. Mit den neuen Bewohnern steige auch die Nachfrage nach weiteren Angeboten wie Kitas oder Arztpraxen, sagt Ahlborn. „Mit den Familien kommt die Infrastruktur.“
Die Wohnknappheit der vergangenen Jahre hat die Mieten getrieben. Der 2010 umgebaute und 2015 von der Industria erworbene Turm ist bis auf wenige Wohneinheiten vermietet, vor allem Neuankömmlinge in der Stadt ziehen hierher. Wohnfonds profitieren von der hohen Nachfrage. Während viele offene Immobilienfonds vor allem in Büros investiert haben und daher in der Coronakrise unter Druck stehen, hat der „Fokus Wohnen Deutschland“ mit seinen 41 Wohnobjekten im vergangenen Geschäftsjahr bis Ende April eine Rendite von 4,9 % eingefahren. Das Interesse von Anlegern sei riesengroß, sagt Ahlborn, denn nicht nur private Sparer, sondern in weiteren Spezialfondsvehikeln auch institutionelle Investoren stellten bereitwillig Geld bereit. „Die Kunst besteht nicht darin, Eigenkapital einzusammeln, sondern das Geld entsprechend einzusetzen.“ Das spürt auch der Fonds, der heute ein Volumen von 836 Mill. Euro hat, wovon aber nur 597 Mill. Euro tatsächlich auf Immobilien entfallen. Einige laufende Bauprojekte sollen in Kürze in den Fonds übergehen.
Auf der Suche nach geeigneten Objekten müsse ein Investor Kontakte pflegen und verschiedene Sprachen sprechen. Von Investitionsgelegenheiten wie an der Lyoner Straße erfahre die Gesellschaft oft von Geschäftspartnern und anderen Kontakten. Für fachfremde Fondsgesellschaften sei es daher schwer, das Segment von Grund auf neu aufzubauen. Zugleich sei die Industria mit mehr als 135 Mitarbeitern und einem verwalteten Vermögen von 3,6 Mrd. Euro nicht zu groß, um sich selbst im Weg zu stehen, wie Ahlborn deutlich macht. „Wenn man nur von Menschen umgeben ist, die allein die Risiken sehen, wird es schwierig, eine Immobilie zu entwickeln.“
Auch müsse ein Investor die Ausdrucksweise von anderen Fachleuten verstehen, etwa von Projektentwicklern, die auf eine Immobilie einen anderen Blick hätten als Geldgeber. Proportionen, Grundrisse, Belichtung – all das sei wichtig für das Wohlempfinden der Menschen im Haus. Auch ein Investor sollte in diesen Kategorien denken können, wie Ahlborn glaubt. Wenn verschiedene Berufsgruppen bei der Planung einer Immobilie aufeinanderträfen, sei der Austausch wie zwischen Menschen aus anderen Sprach- und Kulturräumen. Verständnis für die andere Sichtweise zeuge von Respekt und vereinfache die Zusammenarbeit, was letztendlich auch für den Anlageerfolg wichtig sei. Da schwingt seine Lebenserfahrung mit: Ahlborn hat eine französische Mutter und wuchs zweisprachig auf, während seine Frau russische Wurzeln hat. Als Architekt habe er wiederum ein Faible für Perspektiven, wie er erzählt (siehe „Zur Person“). Eine Immobilie hat für ihn viele Gesichter. „Wenn ein Investor sagt, es sei ihm egal, wie das Objekt aussieht, solange die Anleger happy sind, dann ist das zu wenig.“
Soziales Antlitz
Aber auch Ahlborn ist ein Kind seiner Zeit. Wie andere Fondsverantwortliche erhebt er den Anspruch, nachhaltiges Geschäft zu betreiben. Industria Wohnen verbindet das Thema mit der Schaffung von sozialem Wohnraum. Beim Bau und der Entwicklung von Immobilien sollen demnach einige Einheiten für Menschen mit wenig Geld dabei sein. Ein Investor sei kein Immobilienhai, sagt Ahlborn. Stattdessen habe es die Firma mit langfristig orientierten Geldgebern zu tun, bei denen die Idee sozialer Verantwortung verfange. Selbstlos ist der Fokus für die Anleger nicht, denn der Staat fördert soziale Wohneinheiten mit Baukosten- und Tilgungszuschüssen, Mietsubventionen oder zinsgünstigen Darlehen. Die Rendite sei für Investoren etwas geringer, zugleich schaffe die Förderung durch den Staat verlässliche Einnahmen, betont Ahlborn. Die Sprache der Geldgeber hat er nicht verlernt.