Ein Schweizer Bankchef muss sühnen
Von Daniel Zulauf, Zürich
„Ich bin mir bewusst, dass ich Fehler gemacht und übertrieben habe. Aber nie habe ich mit dem Vorsatz gehandelt, Raiffeisen oder Aduno zu schädigen.“ Mit diesem scheuen Versöhnungsversuch hatte sich der frühere Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz Ende März am letzten Tag des Strafprozesses gegen ihn und sechs Mitbeschuldigte von der großen Bühne verabschiedet. Der ehemalige CEO, der sich zu besseren Zeiten mit der Auszeichnung schmücken durfte, der einzige in der breiten Schweizer Öffentlichkeit beliebte Bankmanager zu sein, strahlte nach acht bisweilen zermürbenden Verhandlungstagen immer noch viel Zuversicht aus.
Nach der Urteilseröffnung am Mittwoch verließ er den mit Medienvertretern aus dem ganzen Land voll besetzten Theatersaal im Zürcher Volkshaus wortlos – konsterniert und mit zerknitterter Miene. Vincenz erhielt eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten, abzüglich 106 Tage Untersuchungshaft und nach Abzug einer neunmonatigen Haftgutschrift, die ihm das Gericht für die mediale Vorverurteilung zugestanden hatte. Das Verdikt erfüllt zu drei Vierteln die Forderung der Staatsanwaltschaft, die sechs Jahre Freiheitsentzug wollte.
„Das Urteil ist falsch, wir werden in Berufung gehen“, ließ Vincenz seinen Verteidiger Lorenz Erni ausrichten. Der Verurteilte schenkte den vor dem improvisierten Gerichtssaal wartenden Fotografen und Kameraleuten kein Lächeln mehr wie noch vor drei Wochen. Keine Spur von jener „Arroganz der Mächtigen“, wie sie der frühere Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann 2004 zur Schau getragen hatte, als er noch vor Beginn des Mannesmann-Prozesses in die Linsen der Kameras strahlte und seine Finger medienwirksam zum Victory-Zeichen reckte.
Seit jenen Jahren ist viel passiert. Die Finanzkrise brachte weltweit vermeintlich sichere Banken ins Wanken. Weltweit wurden Steuergelder zur Sicherung des globalen Finanzsystems investiert. Ackermann hat seinen guten Ruf als visionärer Architekt einer globalen deutschen Großbank längst verloren. In der Schweiz schrammte die UBS haarscharf am Abgrund vorbei. Die Orgien aus dem High Noon der Finanzbranche liegen der Credit Suisse heute noch schwer im Magen. Kein ehemaliger Chef dieser Banken wurde jemals rechtlich zur Verantwortung gezogen – zumindest nicht im strafrechtlichen Sinn. Dasselbe gilt auch für den weltgrößten Finanzplatz, die USA.
Hüben wie drüben musste sich die Öffentlichkeit mit der Binsenwahrheit begnügen, dass nicht alles, was nach einem kriminellen Vergehen aussieht, auch ein solches ist. Die kolossalen Fehlleistungen, welche sich die internationale Kreditwirtschaft und die direkt mit ihr verbundenen Branchen in der Finanzkrise geleistet hatten, mussten die geschockten Steuerzahler als Ausdruck von kollektiver Gier hinnehmen, für die es keinen Straftatbestand gibt. Um ins Schweizer Bild zurückzukehren: Das Urteil im Raiffeisen-Prozess steht auch in krasser Diskrepanz zum „umfassenden Freispruch“, den die vormaligen Chefs der Bank Vontobel 2010 vom Zürcher Bezirksgericht erhalten hatten. Das Trio mit Ex-CEO Jörg Fischer war des gewerbsmäßigen Betrugs und anderer Delikte während der Zeit der großen Börsenblase im Jahr 2000 angeklagt. Die Staatsanwaltschaft forderte Freiheitsstrafen von bis zu vier Jahren. Für die Beschuldigten war der Freispruch ein Triumph, für die Klägerin aber eine Demütigung.
Offenbar haben die Staatsanwälte in Zürich aus den herben Niederlagen der vergangenen Jahre ihre Lehren gezogen und auch gegen Wirtschaftsgrößen wie Pierin Vincenz ein Erfolgsrezept gefunden. Sicher ist das Verdikt ein Novum in der Schweizer Rechtsprechung, das weiter Schule machen könnte.
Noch sind die Urteile gegen Vincenz und seine sechs Mitbeschuldigten nicht rechtskräftig. Aller Voraussicht nach wird auch der zweite Hauptbeschuldigte, der Zürcher Kleinfirmenberater Beat Stocker, in die Berufung gehen. Er ist zu vier Jahren Haft verurteilt und hat mit einem Rekurs viel zu gewinnen.