Getir-Chef Salur vor bitterem Rückzug
Getir-Chef Salur vor bitterem Rückzug
hek Frankfurt
Von Helmut Kipp
Es sind harte Wochen für Nazim Salur. Der Chef des Lieferdienstes Getir aus der Türkei steht vor seiner wohl größten Niederlage als Unternehmer. Mit riesigen Hoffnungen und vollmundigen Ankündigungen war er ab Juni 2021 nach Deutschland expandiert, um den Markt für die Express-Auslieferung von Lebensmitteln und anderen Fertigwaren aufzurollen. Es war die Zeit der Corona-Pandemie, als Restaurantschließungen und Kontaktbeschränkungen den Lieferdiensten einen ungeahnten Boom bescherten und Investoren bereitwillig Milliarden in die junge Branche steckten.
Deutschland war nicht der einzige neue Markt, den Salur in den Blick nahm. Auch in Großbritannien, den Niederlanden, Frankreich, Spanien, Italien, Portugal und den USA ging Getir 2021 an den Start. Im vergangenen Jahr wurde der US-Lebensmittellieferant Freshdirect geschluckt.
Nun steht Salur vor einer Vollbremsung. Offiziell ist es noch nicht, aber er muss offenbar den Rückzug aus den Auslandsmärkten in Europa einleiten, wie die „Wirtschaftswoche“ berichtet. Mitte Mai soll Schluss sein. Denn Investoren sind nicht mehr bereit, die gigantischen Verluste zu finanzieren. Sie haben den Glauben an den Siegeszug der Lieferdienste verloren. Übrig bliebe der Heimatmarkt Türkei, wo der Großteil der Einnahmen erzielt wird.
Die Berliner Arbeitssenatorin Cansel Kiziltepe fordert Aufklärung, wie es hierzulande weitergeht. Mit Getir würde ein zweiter Lieferdienst verschwinden, nämlich Gorillas, deren App in Deutschland nach wie vor populärer ist als die Mutterfirma. Getir hatte das schlingernde Berliner Start-up im Dezember 2022 übernommen, schaffte es aber ebenso wenig wie zuvor Gorillas-Macher Kagan Sümer, ein tragfähiges Geschäftsmodell auf die Beine zu stellen. Salur und seine Manager versäumten es, die Akquisition konsequent zu integrieren. Bis heute treten Getir und Gorillas mit separaten Marken auf.
Den Tech-Sektor entdeckte der 1962 geborene Salur erst im reifen Alter von etwa 50 Jahren für sich. Zuvor verkaufte er gebrauchte Industrieanlagen. 2013 brachte Salur die türkische Taxi-App Bitaksi auf den Weg, die Taxifahrer und Fahrgäste verbindet. Daraus entstand auch die Idee für Getir, die der Unternehmer 2015 zusammen mit den Mitstreitern Serkan Bor Borancili und Tuncay Tütek gründete. Getir mit Sitz in Istanbul gilt als Erfinder des Zehn-Minuten-Konzepts, das Kunden verspricht, ihre Bestellung in extrem kurzer Zeit an die Haustür zu bringen.
Wie locker bei Investoren das Geld vor zwei Jahren noch saß, zeigt die Finanzierungsrunde vom März 2022. Damals kletterte die Bewertung von Getir auf sagenhafte 11,8 Mrd. Dollar. Auf dieser Grundlage steckten die Geldgeber 768 Mill. Dollar ins Unternehmen. Damit waren bis dahin bereits 2 Mrd. Dollar geflossen. Für Salur war das der berufliche Höhepunkt. Bald musste er auf Schrumpfkurs umschwenken und zahlreiche Mitarbeiter nach Hause schicken. Die im Herbst 2023 kolportierte Bewertung lag nur noch bei 2,5 Mrd. Dollar. Investoren, allen voran der Staatsfonds Mubadala aus Abu Dhabi, haben viel Geld verbrannt.