Labour-Führer im Fokus

Ein Machtpolitiker läuft sich warm

Der Labour-Führer Keir Starmer ist ein pragmatischer Technokrat, aber auch ein knallharter Machtpolitiker. Nach der Wahl am 4. Juli könnte er Premierminister werden.

Ein Machtpolitiker läuft sich warm

Mit Keir Starmer läuft sich ein Machtpolitiker warm

Von Andreas Hippin, London

Seit 2020 steht Keir Starmer (61) an der Spitze der Labour Party. Trotzdem fällt es den meisten Briten schwer zu sagen, wofür er steht. Er wirkt bei seinen Auftritten extrem hölzern. Aber vielleicht ist der Sohn eines Werkzeugmachers und einer Krankenschwester genau das, was die Mehrheit nach den chaotischen Jahren seit dem EU-Referendum haben will.

Starmer ist intelligent genug, um zu wissen, dass das Image, ein Langweiler zu sein, in so einem Umfeld von Vorteil sein kann. Nach der Parlamentswahl am 4. Juli könnte er nächster Premierminister des Vereinigten Königreichs werden.

Kindheit im Londoner Speckgürtel

Wer mehr über seine Kindheit wissen will, kann die wohlwollende Biografie von Tom Baldwin lesen, die Ende Februar erschienen ist. Er wuchs in Surrey im Londoner Speckgürtel auf, war aber nicht auf Rosen gebettet. Gleichwohl wirken seine Versuche, einen Arbeiterklassenhintergrund für sich zu beanspruchen, bemüht. Der prominente Menschenrechtsanwalt besitzt ein Haus im Wert von mehreren Millionen Pfund.

Seine Mutter litt unter dem Still-Syndrom, einer schweren Form autoinflammatorischer Arthritis. Ihre Entschlossenheit und ihre Stärke im Kampf gegen die Krankheit, die sie in einen Rollstuhl zwang, haben ihn geprägt. „Selbst wenn ich wusste, dass sie intensive Schmerzen hatte, sagte sie, wenn man sie fragte, wie es ihr geht: Mir geht es gut, wie geht es Dir?“ zitiert Baldwin den britischen Oppositionsführer. So sei sie gewesen, durch und durch. Das habe wohl ein bisschen auf ihn abgefärbt.

Trockener Humor

Welche Entscheidungen er als Premierminister fällen würde, kann man dem Werk nicht entnehmen. Auch der „embedded journalism“ der großen Medienhäuser gibt darüber keinen Aufschluss. Reporter, die mit ihm im Wahlkampfbus durchs Land touren, loben seinen trockenen Humor. Er sei entspannt und eigentlich ein ganz normaler Typ.

Doch beschreiben sie Dinge, die man unterschiedlich deuten kann. „Wir treffen ein paar Acht- und Neunjährige“, zitiert ihn Josh Glaney vom „Sunday Times Magazine“. Er besuchte mit Starmer die Purford Green Primary School. „Danach gehen wir nach Westminster, wo das Durchschnittsalter wesentlich fallen wird.“ Das kann man komisch finden. Man kann es aber auch als Ausdruck von Arroganz werten.

Ein Anti-Boris

Starmer ist kein Volkstribun. Er verfügt nicht über das Charisma eines Tony Blair. Er will Probleme lösen, ganz pragmatisch, ohne ideologischen Ballast − ein Bilderbuch-Technokrat also, ein Anti-Boris. Kaum zu glauben, dass er schon als Teenager den Jungsozialisten beitrat und nach seinem Jura-Abschluss an der University of Leeds und einem weiteren in Oxford als Mitherausgeber des trotzkistischen Magazins „Sozialistische Alternativen“ auftrat.

Er war das erste Mitglied seiner Familie, das an einer Universität studierte

Heute nutzt er weniger seine Kenntnisse der Marxologie als das, was er in seiner Karriere als Jurist gelernt hat. Er arbeitete als Strafverteidiger und gehörte 1990 zu den Gründern der Kanzlei Doughty Street Chambers, die sich im Wesentlichen mit vermeintlichen Verstößen gegen die Menschenrechte beschäftigt. Er versteht sich auf das, was heutzutage „Lawfare“ genannt wird: die Durchsetzung politischer Ziele, für die man keine Mehrheit finden kann, mithilfe der Gerichtsbarkeit. Später wechselte er auf die andere Seite und führte als Chefankläger den Crown Prosecution Service.

In Corbyns Schattenkabinett

Im Dezember 2014 machte ihn Labour zum Kandidaten für den Wahlkreis Holborn & St. Pancras, eine der Hochburgen der Partei. Im Mai 2015 wurde er ins Unterhaus gewählt. Wenige Monate später machte ihn Jeremy Corbyn zum Staatssekretär für Zuwanderungsfragen. Doch war er mit dem Stil des linken Parteichefs unzufrieden: Im Juni 2016 trat Starmer mit anderen Mitgliedern des Schattenkabinetts zurück.

Corbyn setzte sich im Kampf um die Parteiführung jedoch durch. Im September 2016 holt er Starmer als Brexit-Staatssekretär zurück in seine Führungsmannschaft. Corbyn hatte sich stets über die EU geäußert und den Austritt insgeheim begrüßt. Zwei Jahre später trommelte der ideologisch flexible Starmer für ein Referendum über das Brexit-Abkommen mit der EU. Er versteht sich auf knallharte Machtpolitik. Im Mai 2024 warf er Corbyn aus der Partei. Auch andere parteiinterne Gegner wie Lloyd Russell-Moyle und Faiza Shaheen bootete er geschickt aus. Dabei versucht er, sie durch loyale „Starmtroopers“, wie der „Spectator“ sie nannte, zu ersetzen. Doch an der Corbyn-Vertrauten Diane Abbott biss er sich die Zähne aus. Am Ende stellte sich Partei-Vizechefin Angela Rayner hinter die Vertreterin der Parteilinken aus Hackney.

Seine Frau Victoria entstammt einer jüdischen Familie aus Polen, die vor dem Zweiten Weltkrieg nach Großbritannien kam. Entsprechend wenig Verständnis hat Starmer für den in der Partei grassierenden linken Antisemitismus. „Vic“ hat Medienberichten zufolge keine große Lust, aus Camden im Londoner Norden, wo die Familie lebt, in die kleine Dienstwohnung in 10 Downing Street umzuziehen. Die Juristin arbeitet als Beschäftigungstherapeutin für das öffentliche Gesundheitswesen NHS.

Wunsch nach Privatheit

Seine Frau wolle nicht ins Rampenlicht und habe noch nie ein Interview gegeben, sagt Starmer. Und das solle auch so bleiben. Rishi Sunaks Frau Akshata Murphy war weniger öffentlichkeitsscheu und trat auf dem Parteitag der Konservativen auf. Ihre Kinder, ein Mädchen (13) und einen Jungen (15), wollen die Starmers nach Möglichkeit vor dem täglichen Rummel in Westminster abschirmen. Der Sohn macht gerade wichtige Prüfungen in der Schule.

Proteste von Hamas-Unterstützern vor seinem Haus in Camden erträgt Starmer mit einem Stoizismus, der seine Mutter stolz auf ihn gemacht hätte.