Ukraine

Wolodymyr Selenskyj – der unscheinbare Präsident

Der Spaß wird dem Ex-Komiker Wolodymyr Selenskyj im Amt des ukrainischen Staatspräsidenten längst vergangenen sein. Gerade steht sein Land gefährlich nah an der Schwelle zum Krieg mit Russland. Wirtschaftlich läuft es besser.

Wolodymyr Selenskyj – der unscheinbare Präsident

Von Eduard Steiner, Moskau

Die Geschichte kennt keinen Konjunktiv. Und deshalb lässt sich auch nicht sagen, ob sich Wolodymyr Selenskyj den Wechsel an die Spitze des Staates heute nochmals antun würde. Ausgemacht ist es wohl nicht. Denn es sind eben doch zwei verschiedene Paar Schuhe, sich als Kabarettist und Fernsehmoderator, der er die längste Zeit seines Lebens war, über Politik und Gesellschaft lustig zu machen oder Europas größten Flächenstaat in seiner gegenwärtigen Verfassung zu lenken. In ihm ist nämlich nicht einmal ganz klar, ob er 42 Millionen Einwohner zählt oder doch 46, sofern man die separatistischen Republiken im Osten dazurechnet. Auch ist die Überwindung der traditionell starken Oligarchie eine Mammutaufgabe, an der schon andere gescheitert sind. Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International ist das Land gerade wieder von Platz 117 auf Platz 122 unter 180 untersuchten Ländern abgerutscht. Vor allem aber steht es gefährlich nah an der Schwelle zum Krieg mit Russland, wiewohl ein Krieg mit den von Russland unterstützen Separatisten ja ohnehin schon seit acht Jahren stattfindet und Selenskyj bei seinem Amtsantritt im Mai 2019 die Beendigung dieses Konfliktes als vorrangige Aufgabe angekündigt hat.

Wie manche Politiker vor ihm, wird der heute 44-Jährige, der einer russischsprachigen jüdischen Familie aus der südöstlichen Industriestadt Krywyj Rih entstammt, den Konflikt mit einem Russland unter Wladimir Putin unterschätzt haben. Dies umso mehr, als er im Unterschied zu all seinen Vorgängern im Präsidentenamt eben ein unerfahrener Quereinsteiger war. Als er am 21. April 2019 die Stichwahl gegen den bis dahin amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko mit drei Vierteln der abgegebenen Stimmen für sich entschied, wurde er am ehesten mit Giuseppe Grillo, dem italienischen Komiker und Gründer der Fünf-Sterne-Bewegung, verglichen. Der Vergleich hinkte von Anfang an, denn abgesehen vom großen Altersunterschied hatte Selenskyj auch kein klares Programm, geschweige denn einen ideologischen Überbau. Worauf der verheiratete Vater zweier Kinder bauen konnte, als er 2019 neben der Präsidentenwahl mit seiner neuen, proeuropäische Partei „Diener des Volkes“ auch noch die absolute Mehrheit bei den Parlamentswahlen erzielte, war die große Nachfrage nach einem unverbrauchten Politikertypus, der das von Korruption und Nachbarschaftskonflikt ermüdete Land endlich in eine moderne Zukunft führen würde.

Rein wirtschaftlich ist einiges gelungen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hat das Niveau des Jahres 2013 – also vor der Eskalation mit Russland – wieder überschritten. Vieles verdankt sich den hohen Preisen für Getreide, das wichtigste Exportgut, und anderen hohen Rohstoffpreisen. Auch begann das 2014 unterzeichneten Assoziierungsabkommens mit der EU Früchte zu tragen. Und die IT-Branche hat sich zu einer tragenden Säule der Wirtschaft entwickelt.

Eigenmächtiger Apparat

Und doch macht es bis heute den Anschein, als ob der studierte Jurist Selenskyj mit all den Entwicklungen nur peripher zu tun hat und sie auch ohne ihn passiert wären. Er und seine Mannschaft seien schwach, lautet eines der großen Narrative aus seinem Umkreis und unter Beobachtern in der Ukraine. Top-Beamte und Leiter staatlicher Institutionen hätten Aufwind bekommen und würden völlig eigenmächtig agieren.

Dass er von Ihor Kolomojskyj, einem der reichsten und übel beleumundeten Oligarchen, in dessen TV-Ka­nal er mit seiner satirischen Fernsehserie „Diener des Volkes“ einst reüssiert hatte, später im Wahlkampf finanziert wurde, blieb als Fleck auf Selenskyjs angeblich weißer Weste haften. Wie sehr er auch seine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit betonte: Das Image, eine Marionette zu sein, wurde er schon im Inland nicht ganz los. Geschweige denn in Russland. Dort hat Putin, der wohlgemerkt just von Kolomojskyj 2014 als „schizophrener Zwerg“ bezeichnet worden war, später Kolomojskyjs Schützling Selenskyj nie richtig ernst genommen. Zu einem bilateralen Treffen war er nie bereit. Über die Ukraine will Putin – wenn überhaupt – nur mit den USA und der Nato reden.