BGH entscheidet in Lehrbuchfall zum kollektiven Rechtsschutz
BGH entscheidet in Lehrbuchfall
zum kollektiven Rechtsschutz
Gericht lehnt gleichartigen Rückzahlungsanspruch von Verbraucherverbänden ab
Von Henner Schläfke
und Tobias B. Lühmann *)
Mit einer wegweisenden Entscheidung hat der Bundesgerichtshof (BGH) den grundlegenden Ansatz des kollektiven Rechtsschutzes in Deutschland bestätigt. Verbraucherverbände und andere qualifizierte Einrichtungen können nicht ohne Weiteres Unternehmen auf die Rückerstattung rechtsgrundlos einbehaltener Geldbeträge an Verbraucher verklagen. Vielmehr müssen sich Verbraucher der Klage aktiv anschließen.
Wenig Motivation
Am 11. September 2024 hat der BGH einen Lehrbuchfall des kollektiven Rechtsschutzes entschieden: Ein Unternehmer erhebt von seinen Kunden die Zahlung einer geringen Gebühr von 2,50 Euro, damit diese sich nach einem Festivalbesuch auf einem Armband verbuchtes unverbrauchtes Guthaben erstatten lassen können. Dies jedoch zu Unrecht, weil die entsprechenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) unwirksam sind. Trotz der Unwirksamkeit der AGB kann der Unternehmer damit rechnen, dass die überwiegende Mehrzahl an Kunden ihre Ansprüche nicht verfolgen wird, weil der in Rede stehende Geldbetrag zu gering ist, um die Mühen der Anspruchsverfolgung oder die Kosten eines Rechtsstreits auf sich zu nehmen.
Dies rief den Bundesverband der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände (vzbv) auf den Plan: Dieser verlangte von dem Festivalanbieter im Wege einer Verbandsklage die Rückzahlung der erhobenen Rückerstattungsgebühr an die betroffenen Verbraucher. Die Idee dahinter: Nach der Rechtsprechung stellt die Verwendung unwirksamer AGB einen Verstoß gegen das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) dar, der dem Verband einen verschuldensunabhängigen Beseitigungsanspruch gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 UWG gibt. Was läge da näher, als Beseitigung in Form der Erstattung zu verlangen, ohne dass sich Verbraucher an der Klage beteiligen müssen?
Grundsätzliche Fragen
Die Klage des vzbv warf aber gleich mehrere grundsätzliche Fragen auf: In Bezug auf das UWG stellte sich das Problem, dass die Erstattung von Entgelten nicht zur Beseitigung der Folgen der Verwendung unwirksamer AGB zählt, denn diese Folgen bestehen nicht in der Zahlung, sondern in der Fehlvorstellung über die Wirksamkeit der AGB und das Bestehen der Zahlungsverpflichtung. Zudem kennt das UWG Ansprüche, die auf Abschöpfung (§ 10 UWG) bzw. Erstattung (§ 9 UWG) gerichtet sind, hierfür aber ein Verschulden aufseiten des Unternehmers voraussetzen.
Zudem stellten sich auch grundsätzliche konzeptionelle Fragen für den kollektiven Rechtsschutz in Deutschland. Der Gesetzgeber hatte sich 2016 bei der Einführung der Musterfeststellungsklage (§§ 606 ff. ZPO aF) und erneut bei der Umsetzung der EU-Verbandsklagenrichtlinie 2020/1828 und der Einführung einer kollektiven Leistungsklage (sog. Abhilfeklage) im Verbraucherrechtsdurchsetzungsgesetz (VDuG) bewusst dafür entschieden, dass Verbraucher sich einer Klage aktiv anschließen müssen. Diese Grundentscheidung zugunsten einer Teilnahmeentscheidung (sog. Opt-in) und gegen eine automatische Teilnahme mit Austrittsmöglichkeit (sog. Opt-out) würde durch einen auf Rückzahlung an alle Verbraucher gerichteten Beseitigungsanspruch infrage gestellt.
Die praktische Bedeutung ist hoch: Vier der bisher erhobenen fünf Abhilfeklagen betreffen die Erstattung von Geldern, die aufgrund vermeintlich unwirksamer Klauseln vereinnahmt wurden, d.h. Konstellationen, die nach der Argumentation des vzbv auch unter § 8 Abs. 1 UWG fallen würden, ohne dass Verbrauchern die vom VDuG vorgesehene Anmeldung abverlangt würde. Der BGH hat das Problem lehrbuchartig gelöst und diese systematischen Bedenken zum Anlass genommen, einen Folgenbeseitigungsanspruch gemäß § 8 Abs. 1 UWG abzulehnen.
Damit stärkt der Bundesgerichtshof das bestehende ausdifferenzierte – nicht immer leicht überschaubare – System des kollektiven Rechtsschutzes und belässt die Verantwortung für die Durchsetzung von Leistungsansprüchen dort, wo auch der Gesetzgeber sie verortet hat: beim Verbraucher.
Das ist wegweisend für den kollektiven Rechtsschutz in Deutschland und ein klarer Unterschied z.B. zu den Niederlanden und Portugal. In Deutschland sollen – und müssen – Verbraucher selbst entscheiden, ob sie etwaige Forderungen geltend machen oder nicht. Eine Klage durch Verbraucherverbände genügt nicht.
Rationale Entscheidung
Verbraucher werden weiterhin nur in Ausnahmefällen zu Durchsetzung von Kleinstforderungen (sog. Streuschäden) zu motivieren sein. Rechtspolitisch ist dagegen aber wenig einzuwenden. Das fehlende Interesse ist rational. Dies zeigt ein aktueller Fall der Verbraucherzentrale Sachsen, die einen Aufruf zur Abhilfeklage abgebrochen hat, weil es zu wenige Anmeldungen gab.
Auch der Gesetzgeber geht davon aus, dass die Abhilfeklage bei Streuschäden nicht zweckmäßig ist (BT-Drs. 20/6520, S. 64). Als zweckmäßig wird vielmehr die Gewinnabschöpfungsklage gemäß § 10 UWG gesehen, die erst kürzlich liberalisiert und für eine Prozessfinanzierung geöffnet wurde und mit der künftig häufiger als bisher zu rechnen ist. Die Klage zielt darauf ab, rechtsgrundlos erlangte Gelder an den Bundeshaushalt abzuführen. Das BGH-Urteil bietet also keinen Grund, sich auf unwirksamen AGB „auszuruhen“.
*) Dr. Henner Schläfke ist Partner und Dr. Tobias B. Lühmann ist Associated Partner bei Noerr in Berlin.