Eine Konstante als Werteverfassung
Eine Konstante als Werteverfassung
Das Grundgesetz hat seine integrative Kraft über Jahrzehnte unter Beweis gestellt − In ständigem Wandel nicht aus der Zeit gefallen
Von Marc Ruttloff *)
Am 23. Mai 2024 wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Geboren als eine „Übergangsverfassung“ auf Zeit wurde es zu einem Garanten für Stabilität und eine Konstante als Werteverfassung, die in siebeneinhalb Jahrzehnten des ständigen Wandels niemals aus der Zeit gefallen ist.
Die Väter des Grundgesetzes kreierten ihr Verfassungsdokument als Werteverfassung mit dem unmissverständlichen Kernanliegen, im Lichte der Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus, eine solche Konstante im Sinne eines Bekenntnisses zur Freiheit und Gleichheit jedes Einzelnen sowie eines unumstößlichen Bekenntnisses zur Menschenwürde und den Menschenrechten zu etablieren.
Garantie der Menschenwürde
Neben diesem Kernbestand der grundrechtlichen Werteordnung, wie sie im Wesentlichen in den Art. 1 bis 19 GG verbürgt sind, normierten die Verfassungsgeber – auch in unmittelbarer textlicher Nähe – die im Kern ebenfalls bis heute unveränderten Verfassungsprinzipien der staatlichen Verfasstheit. Namentlich die in Art. 20 GG verankerten Verfassungsprinzipien des Rechtsstaats, der Demokratie, des Bundes- und Sozialstaats sowie den Verfassungsgrundsatz der Republik.
Diese Verfassungsprinzipien erhebt das Grundgesetz im Geiste ihrer Väter über Art. 79 Abs. 3 GG, gemeinsam mit der Garantie der Menschenwürde aus Art. 1 GG, zum unveränderlichen Kern der Verfassung und damit zum Nukleus der grundgesetzlichen Wertekonstante. Eine Änderung dieses „Nukleus“ ist selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber verwehrt. Damit haben die Verfassungsväter zugleich ein unverbrüchliches Signal dahingehend gesetzt, dass der Bestand des Grundgesetzes unveräußerlich mit der Garantie der Menschenwürde sowie den grundlegenden Verfassungsprinzipien verbunden ist. Einer systematischen Unterwanderung, wie es der Weimarer Reichsverfassung widerverfahren ist, sollte damit gleichsam ein zentrales Bollwerk der Unveränderlichkeit entgegengesetzt werden.
Resilienz und Schutzmechanismen
Dieses Versprechen einer Konstante und Werteverfassung hat das Grundgesetz in 75 Jahren in bemerkenswerter Weise gehalten und extremistischen Auswüchsen an den Rändern erfolgreich Einhalt geboten. Dessen große Bedeutung und das präsente Bewusstsein dahingehend belegt nicht zuletzt auch die aktuell öffentlich geführte Diskussion über die Wehrhaftigkeit der Demokratie und des Rechtsstaats sowie den erforderlichen Schutz dieser Konstanten. Nicht zuletzt werden hierfür flankierende prozedurale Mechanismen gefordert, um eine Unterwanderung zentraler Verfassungsorgane, wie des Bundesverfassungsgerichts, wirksam zu verhindern.
Diese aktuelle Resilienzdiskussion belegt umso mehr, welche weitreichende gesamtgesellschaftliche Anerkennung die materiellen Verbürgungen dieser zentralen Werteverfassung des Grundgesetzes durch die Verfassungsväter erfahren haben. Dem materiellen Wertegehalt, aufgrund seiner besonderen Schutzwürdigkeit, nunmehr auch prozedurale Schutzmechanismen zur Seite stellen zu wollen, bezeugt nicht zuletzt, für wie richtig und wichtig dieses Fundamentalbekenntnis der Verfassungsväter damals wie heute allgemein geschätzt wird.
Bewusst provisorischer Charakter
Diese Werteverfassung als Konstante ist umso bemerkenswerter, als das Grundgesetz nach seiner ursprünglichen Konzeption durch einen bewusst provisorischen Charakter geprägt war. Zur Dokumentation dieser Vorläufigkeit wählten die Verfassungsväter die Begrifflichkeit des „Grundgesetzes“ und vermieden den Terminus „Verfassung“. Hiermit dokumentierte die verfassungsgebende Versammlung ihren Glauben an die Vorläufigkeit der deutschen Teilung, die sich als Konsequenz nach dem Ende des zweiten Weltkrieges ergeben und letztlich durch den sich weiterentwickelnden Ost-West-Konflikt der darauffolgenden Jahrzehnte tiefgreifend materialisiert hatte.
Seine Integrationsoffenheit konnte das Grundgesetz mithin bereits nach wenigen Jahren seiner Geltung eindrucksvoll unter Beweis stellen, als mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahre 1957 die ersten Schritte der europäischen Integration beschritten wurden, die am Ende in die heutige Form der Europäischen Union mündeten. In ebenfalls vorausschauender Weise hatten die Verfassungsväter sowie die im Nachgang verfassungsändernden Gesetzgeber in den jeweiligen Fassungen in Art. 24 und später Art. 23 des Grundgesetzes die Grundlagen dafür geschaffen, eine Souveränitätsteilung im Rahmen des europäischen Staatenverbunds zu ermöglichen.
Die Konstante der Werteverfassung wirkte somit schon von Beginn an nicht als beharrende Funktion, sondern als Werteordnung mit integrativer Kraft. Mit den Gründungsstaaten Frankreich, Bundesrepublik Deutschland, Italien, Luxemburg, Belgien und den Niederladen nahm die EWG – gemeinsam mit der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) – damit ihren Ausgangpunkt für den weitervorschreitenden europäischen Einigungsprozess.
Die integrative Wirkkraft sollte sodann das Grundgesetz erneut im Rahmen der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands im Zuge der Wiedervereinigung entfalten. Wenn die Verfassungsväter – dokumentiert mit der Namensgebung „Grundgesetz“ – die Vorläufigkeit bis zur Wiederherstellung der deutschen Einheit dokumentiert wissen wollten, waren bereits nachdem damals noch in Art. 23 GG verankerten Optionsmodell sowohl die Schaffung einer neuen Verfassung für den gemeinsamen deutschen Staat ebenso wie der Beitritt zur Bundesrepublik im Sinne der Verfassungskontinuität als Alternativen angelegt.
Als Markenkern etabliert
Nicht zuletzt aufgrund der Bewährung der grundgesetzlichen Wertverfassung fiel die Wahl zur Umsetzung der Wiedervereinigung, wie sie im Jahre 1990 vollzogen wurde, auf den Beitritt des Gebiets der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland und damit auf die Geltungserstreckung des Grundgesetzes auf das Gebiet des nunmehr wiedervereinten Deutschlands.
Der ursprünglich als Ausdruck der Vorläufigkeit geborene Name „Grundgesetz“ hatte sich damit gleichsam endgültig als Markenkern der Werteverfassung etabliert. Die vormals in der Präambel angelegte Vorläufigkeit wurde, im Zuge der zugleich umgesetzten Revision, durch ein Bekenntnis zur Dauerhaftigkeit ersetzt.
Die Wirkkraft der Werteverfassung des Grundgesetzes entfaltete in der Folge der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten und der fortschreitenden Integration Europas weitergehende Dimensionen. Eine zentrale Rolle spielte dabei die ausfüllende Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts. Das Grundgesetz in der Auslegung und Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht konnte insofern als ein wesentlicher Faktor dienen, um dem heute mit den Begriffen „Mehrebenensystem“ sowie „Verwaltungs-“, „Gesetzgebungs-“ und „Rechtsprechungsverbund“ schlagwortartig gekennzeichnete Kooperationsverhältnis der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union als supranationale Organisation, eine nicht unwesentliche Mitprägung geben. Die Konstanten der Werteverfassung der Väter des Grundgesetzes wirken somit noch heute auf die Weiterentwicklung der Europäischen Union ein.
Garant für wirtschaftliche Freiheit
Schließlich zeigt sich diese integrative Funktion des Grundgesetzes in der Fortentwicklung der Dimensionen des Grundrechtsschutzes im Zusammenwirken der Grundrechte des Grundgesetzes mit den Unionsgrundrechten. Auch in dieser Hinsicht ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein nicht unwesentlicher Katalysator dafür, das Zusammenwirken der supranationalen mit der nationalen Ebene zu einem lückenlosen Grundrechtsschutz sicherzustellen, der in einem zunehmend nahtlosen Ineinandergreifen der Grundrechtsstandards der verschiedenen Ebenen seine Ausprägungen erfährt.
Dieser lückenlose Grundrechtsschutz ist damit zugleich Garant für die Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit und der damit verbundenen Rechtssicherheit, die maßgebliche Grundlage für die Prosperität des europäischen Wirtschaftsraumes ist. Schließlich ist fundamentaler Grundrechtsschutz mithin auch eine unveräußerliche Grundvoraussetzung für persönliche wie auch wirtschaftliche Freiheit.
Auch nach 75 Jahren bleibt das Grundgesetz damit, was es von Anfang an sein wollte: eine Konstante als Werteverfassung, aber mit großer integrativer Kraft.
*) Dr. Marc Ruttloff ist Partner im Stuttgarter Büro von Gleiss Lutz und Leiter der Fachgebietsgruppe Öffentliches Recht.
*) Dr. Marc Ruttloff ist Partner im Stuttgarter Büro von Gleiss Lutz und Leiter der Fachgebietsgruppe Öffentliches Recht.