Kapital für die Transformation Deutschlands
Von Joachim Kayser*)
Die Ampel-Koalition hat sich in ihrem Koalitionsvertrag große Ziele gesetzt. Sie will „mehr Innovation, mehr Wettbewerbsfähigkeit, mehr Effizienz, gute Arbeit und klimaneutralen Wohlstand“ erreichen. Dafür haben die Regierungsparteien ein „Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen“ ausgerufen. Deutschland soll umfassend reformiert und modernisiert werden – das Ziel ist ein klimaneutrales Industrieland. Dies bedeutet nicht weniger als eine umfassende Transformation der wirtschaftlichen Landschaft der stärksten Volkswirtschaft Europas. Geplant sind massive zusätzliche Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur oder erneuerbare Energien.
So sollen beispielsweise bis 2030 mindestens 15 Millionen Elektro-Autos auf die Straße gebracht und pro Jahr 100000 öffentlich geförderte Wohnungen gebaut werden. Auch eine Kindergrundsicherung, einen Pflegebonus und die Einführung der Aktienrente hat die Koalition vorgesehen, während staatliche Unternehmen wie die Bahn oder die Infrastrukturgesellschaft BImA ihre Investitionen ausbauen sollen. Darüber hinaus wird der Energie- und Klimafonds in Klima- und Transformationsfonds (KTF) umgetauft und massiv mit zusätzlichen Mitteln bedacht. Der Fonds soll über einen Nachtragshaushalt mit Kreditermächtigungen von rund 60 Mrd. Euro ausgestattet werden, die im Jahr 2021 nicht zur Bekämpfung der Corona-Pandemie benötigt wurden.
Schon jetzt steht fest, dass für die Finanzierung dieser Pläne auch große Summen privates Kapital mobilisiert werden müssen. SPD, Grüne und FPD haben diesen Bedarf erkannt und entsprechend angekündigt, „privates Kapital institutioneller Anleger, wie Versicherungen und Pensionskassen,“ zu mobilisieren. Dabei bekommt die Koalition unerwartete Hilfe aus Brüssel. Als hätte die EU-Kommission es geahnt, wurden im Oktober die Änderungen der Solvency-II-Richtlinien für Versicherer beschlossen. Bereits im September 2021 wurde der erste Richtlinienentwurf veröffentlicht. Aktuell läuft der Gesetzgebungsprozess unter Beteiligung von EU-Parlament und EU-Rat; ab 2024/2025 könnten die neuen Regularien greifen.
Stabilität großgeschrieben
Der Umbau des Regelwerks zielt darauf ab, die Stabilität der Versicherungsbranche zu gewährleisten und die Folgen des Niedrigzinsumfelds abzumildern. Daher werden auch die Eigenkapitalanforderungen für Versicherungsunternehmen (VU) erleichtert und es wird ihnen ermöglicht, verstärkt in Aktien und Infrastrukturprojekte zu investieren. Mit einem verwalteten Vermögen in Billionenhöhe ist der Versicherungssektor eine tragende Säule der europäischen Finanzindustrie. Aufgrund der regulatorischen Hemmnisse haben sich die Versicherungsgesellschaften in den letzten Jahren jedoch zunehmend von langfristigen Investitionen in Aktien zurückziehen müssen. Mit der Überarbeitung der Richtlinien werden die Hindernisse für solche Eigenkapitalinvestitionen beseitigt. Dabei gibt es insbesondere drei Hebel, mit denen die Kommission den Kapitalspielraum der VU beeinflussen will.
So plant sie insbesondere, die langfristige Investition in Eigenkapital zu erleichtern. Die Kapitalanforderungen für alle Eigenkapitalinvestitionen sollen grundsätzlich reduziert und auch für nachhaltige Investitionen gesenkt werden. Darüber hinaus werden Änderungen im Hinblick auf die langfristigen Garantien von VU diskutiert, um kurzfristigen Marktschwankungen besser Rechnung tragen zu können und ihre Solvabilitätssituation zu entlasten. Auch soll die Möglichkeit der Investition in Aktien mit längerfristigem Anlagehorizont vereinfacht werden, indem die Kriterien für eine Vorzugsbehandlung solcher Investitionen angepasst werden. Die Überlegungen der EU sehen vor, die Bedingungen zu vereinfachen, unter denen Aktieninvestitionen – auch im Rahmen von Infrastrukturfonds – als langfristig behandelt werden. Hintergrund dieser Maßnahme ist, dass notierte und nicht notierte Aktien üblicherweise einem Risikofaktor von 39% und 49% unterliegen. Bei einer bevorzugten Behandlung würden die Aktien jedoch mit dem günstigeren Risikofaktor von 22% erfasst. Durch eine solche Erweiterung des Anlageuniversums der als langfristig geltenden Aktien lassen sich laut EU-Kommission bei vorsichtiger Schätzung die Kapitalanforderungen für das Aktienrisiko um etwa 10,5 Mrd. Euro reduzieren. Damit könnten europäische Unternehmen und insbesondere der Infrastruktursektor mit wichtigem Kapital ausgestattet werden.
Weiterhin soll die Risikomarge im Rahmen der Rückstellungen verändert werden. Durch die Risikomarge wird gewährleistet, „dass der Wert der versicherungstechnischen Rückstellungen dem Betrag entspricht, den die Versicherungsunternehmen fordern würden, um die Versicherungsverpflichtungen übernehmen und erfüllen zu können“. Aktuell führt die verwendete Formel jedoch zu tendenziell volatileren und höheren Werten für die Rückstellungen, als dies bei Nicht-Versicherungsunternehmen der Fall wäre. Daher hat die EIOPA vorgeschlagen, die Formel zur Berechnung der Risikomarge um zwei Parameter zu erweitern. Damit würden sowohl der Wert der Risikomarge als auch die Volatilität sinken. Im Rahmen dessen wird auch eine Herabsenkung des Kapitalkostensatzes, der bei der Berechnung der Risikomarge zugrunde gelegt wird, von sechs Prozent auf fünf Prozent diskutiert. Durch diese Anpassungen ließen sich voraussichtlich insgesamt mehr als EUR 50 Mrd. zusätzliches Kapital freisetzen.
Zudem sieht die Überarbeitung auf Level-II-Ebene eine Anpassung der Volatilität vor. Da Versicherungsunternehmen Vermögenswerte üblicherweise über einen langen Zeitraum halten und zwischenzeitliche Verluste nicht realisieren müssen, sollten diese langfristigen Aussichten auch bei der Solvabilität der Unternehmen berücksichtigt werden. Daher sehen die Änderungsvorschläge vor, den Prozentsatz der risikoadjustierten Kredit-Spreads anzuheben. So ließen sich die Auswirkungen kurzfristiger Volatilitätsschwankungen an den Finanzmärkten auf die Positionen der Versicherungsunternehmen und deren Bewertung innerhalb der Bilanz verringern. Damit können turbulente Preisschwankungen bei der Bewertung der Verbindlichkeiten ausgeglichen werden, was wiederum die Langfristigkeit der Anlagemöglichkeiten gewährleistet.
Zuletzt sehen die Änderungen der Solvency-II-Richtlinien weitere Anpassungen vor, die darauf abzielen, die Kapitalanforderungen zu erleichtern und den Versicherungssektor vor allem im Hinblick auf zukünftige Krisen zu stärken. So beinhalten die Reformvorschläge auch die Einführung der Kategorie des Versicherungsunternehmens mit niedrigem Risikoprofil („Low-Risk Profile Undertakings“). Unternehmen, die in diese Kategorie fallen, sollen zukünftig von transparenten, klareren und verhältnismäßigen Regeln etwa im Berichtswesen profitieren können.
Zusätzlich wird die EIOPA beauftragt, bis 2023 neue Erkenntnisse über umwelt- oder sozialschädliche Investitionen zu prüfen und die Ergebnisse in einem Bericht zu veröffentlichen. Die so gewonnenen Erkenntnisse über die Gefährdung und Aufstellung der Versicherungsunternehmen im Hinblick auf Naturkatastrophen sollen dafür genutzt werden, mögliche Anpassungen im Rahmen der Kapitalanforderungen der Versicherungsunternehmen in Erwägung zu ziehen, und könnten so für eine zusätzliche Freisetzung von Kapital sorgen.
Zentraler Akteur
Die jüngsten Reformvorschläge für Solvency II legen einen starken Fokus auf langfristige und nachhaltige Eigenkapitalinvestitionen. Dieser Schwerpunkt ist unseres Erachtens begrüßenswert. Allerdings sind zentrale Teile des Rahmenwerkes in delegierten Rechtsakten festgelegt, die nicht Gegenstand der momentanen Legislativvorschläge sind, sondern erst zukünftig angepasst werden. Die Ampel-Koalition ist dringend auf das Kapital der Versicherungsbranche angewiesen, um ihre ambitionierten Ziele zu erreichen. Mit der Umsetzung der delegierten Rechtsakte in der kommenden Legislaturperiode kann sie selbst sicherstellen, dass die Versicherungsbranche als größter institutioneller Investor ein zentraler Akteur des geplanten Transformationsprozesses sein wird.
*) Dr. Joachim Kayser ist Partner von Goodwin Procter in Frankfurt.