RECHT UND KAPITALMARKT

ESA-Leitlinien haben faktische Bindung

Die Bedeutung sekundärer Rechtsquellen wächst - Kollisionsgefahr mit guter Corporate Governance

ESA-Leitlinien haben faktische Bindung

Von Daniela Weber-Rey *)Das europäische Finanzaufsichtssystem (European System of Financial Supervision, ESFS) ist mittlerweile etabliert, und die drei europäischen Aufsichtsbehörden (European Supervisory Authorities, ESAs) sind seit dem 1. Januar 2011 aktiv: die Europäische Bankenaufsicht (European Banking Authority, EBA), die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (European Insurance and Occupational Pensions Authority, EIOPA) und die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (European Securities and Markets Authority, ESMA). Der BaukastenAlle drei ESAs wurden jeweils durch eine EU-Verordnung vom 24. November 2010 geschaffen. Sie sind auf dieser Grundlage unter anderem damit betraut, verschiedene Rahmenrichtlinien sowohl mit sogenannten Level-2-Maßnahmen (der EU-Kommission) als auch mit eigenen Level 3-Maßnahmen, zu denen auch die Leitlinien gehören, fortzuentwickeln.Dabei werden sie zum Teil auch bereits vor der Verabschiedung der jeweiligen Rahmenrichtlinie, das heißt in paralleler Vorbereitung, tätig. Der baukastenartige Aufbau der Regulierung in diesem Umfeld beruht auf dem Lamfalussy-Verfahren, das durch den Lissabonner Vertrag und die neue europäische Aufsichtsstruktur modifiziert wurde. Enorme BedeutungEs entstehen derzeit bei allen ESAs mit dem Ziel, die Sicherheit und Solidität der Finanzmärkte zu fördern und die Finanzaufsicht zu harmonisieren, sehr umfassende Regelungswerke, die in Breite und Tiefe oft weit über das vernünftige Maß hinauszureichen scheinen, was sich schlicht an der Zahl der Seiten und der Menge der Leitlinien festmachen lässt.Es ist leicht zu sagen, diese Ausführlichkeit diene auch dem Nutzer, der dann wisse, woran er sich halten, also Orientierung finden könne, ohne dass die Leitlinien eine durchsetzungsfähige rechtliche Bindungswirkung entfalteten. Dem ist aber nicht so. Tatsächlich hat sich die aufsichtsrechtliche Landschaft durch den kombinierten Effekt des mit dem Lissabonner Vertrag überarbeiteten Lamfalussy-Verfahrens und die neue europäische Finanzaufsichtsstruktur so verändert, dass auch sekundäre Rechtsquellen, ja sogar Quellen, die noch unterhalb dieses Niveaus stehen können, eine rein faktische Bindungswirkung mit gewaltiger Bedeutung erlangen. Dies soll im Folgenden dargestellt werden.Leitlinien der ESAs haben grundsätzlich einen formalrechtlich unverbindlichen Charakter. Häufig wird im Zusammenhang von Leitlinien von einer sekundären Rechtsquelle gesprochen, der – unter anderem wegen des Act- beziehungsweise Comply-or-explain-Mechanismus – eine rein faktische Bindungswirkung zuerkannt wird; rechtliche Sanktionen sind für den Fall der Nichtbefolgung nicht vorgesehen.Den Leitlinien kommt jedoch insoweit Bedeutung zu, als die Adressaten, also Behörden und Finanzinstitute, verpflichtet sind, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Es wird sogar ausdrücklich in den jeweiligen Verordnungen verlangt, dass die Adressaten alle erforderlichen Anstrengungen unternehmen, um den Leitlinien nachzukommen. Binnen zwei MonatenJede betroffene nationale Behörde – zum Beispiel die BaFin in Deutschland – muss binnen zwei Monaten nach Herausgabe einer Leitlinie mitteilen, ob sie dieser nachkommt oder dies beabsichtigt. Ist dies nicht der Fall, muss die Behörde die Gründe hierfür angeben (Comply-or-explain-Prinzip). Die jeweilige ESA veröffentlicht die Entscheidung der Behörde und kann nach vorheriger Information der Behörde auch die Veröffentlichung der Gründe für deren Entscheidung beschließen. Ist der Adressat ein Finanzinstitut (inklusive Versicherungsunternehmen), soll es auf klare und ausführliche Weise berichten, ob es der Leitlinie nachkommt, sofern dies nach der jeweiligen Leitlinie erforderlich ist.Im Jahresbericht informiert die jeweilige ESA das Europäische Parlament, den Rat und die EU-Kommission unter anderem darüber, welche Leitlinien herausgegeben wurden, welche Behörden diesen nicht folgen und wie die jeweilige ESA beabsichtigt sicherzustellen, dass die betroffenen nationalen Behörden in Zukunft den Leitlinien Folge leisten.Die Anwendung der Leitlinien wird von der jeweiligen ESA überprüft, und sie schlägt gegebenenfalls im weiteren Verlauf Änderungen vor. Durch vergleichende Analysen (Peer Reviews) prüft die Aufsichtsbehörde unter Berücksichtigung der Leitlinien weiter den Grad der Angleichung des Unionsrechts und der Aufsichtspraktiken. Ansichten der AufsichtenDie Leitlinien bringen keine eigene Verwaltungspraxis zum Ausdruck, sondern stellen lediglich die Ansicht der ESAs dar, auf welche Weise die Aufsicht der nationalen Behörden erfolgen soll. Weder die nationalen Gerichte noch der Europäische Gerichtshof sind an Leitlinien der ESAs, die auf Stufe 3 des Lamfalussy-Verfahrens stehen, gebunden.Dennoch ist wegen der Selbstbindung und des aufsichtsrechtlichen Comply-or-explain-Prinzips trotz der fehlenden (rechtlichen) Bindungswirkung zu befürchten, dass die rein faktische Bindung überhandnimmt, sich festigt und weiterreichenderen Einfluss gewinnt, als es sich die Väter des Systems ursprünglich gedacht haben mögen. Die ESAs müssen sich vor Augen halten, dass sie die Leitlinien selbst erlassen, ohne dass Organe der EU in diesen Prozess eingebunden sind. Weiter gilt es immer zu berücksichtigen, dass Leitlinien nach dem Willen der Verordnungsgeber nur in Bereichen veröffentlicht werden sollen, die nicht bereits durch (bindende) technische Standards der EU-Kommission nach Vorbereitung der jeweiligen ESA abgedeckt werden.Auch auf Stufe 3 des Lamfalussy-Verfahrens stehen quantitative und qualitative Themen zur Bearbeitung durch die ESAs an. Während es bei quantitativen Themen sinnvoll sein kann, größere Klarheit durch Schaffung einer gleichen Ausgangsbasis aufgrund des Zahlenmaterials zu erlangen, ist diese Erwägung doch nicht auf qualitative Themen zu übertragen. Zu den qualitativen Themen gehören insbesondere die Komplexe Corporate Governance, Risk Management und Compliance.Diese Themen sind Gegenstand eigener Regelungen auf allen Stufen, insbesondere aber auch derzeit relevant für Leitlinien der EBA (Entwurf veröffentlicht am 18. April 2012 und Gegenstand eines öffentlichen Konsultationsverfahrens) und der EIOPA (Entwurf ist noch Gegenstand interner Diskussionen). Die EBA sieht eine kurzfristige Umsetzung der Leitlinien innerhalb von nur vier Monaten nach deren Veröffentlichung durch die nationalen Aufseher und innerhalb von sechs Monaten durch die betroffenen Institute vor. Beide Entwürfe reichen hinsichtlich ihres Umfangs deutlich über das hinaus, was für diese Themen und die beabsichtigte Herstellung einer guten Unternehmensführung bei gleichzeitig angemessenem Risikomanagement sinnvoll sein kann. Insbesondere Corporate-Governance-Themen dürfen nicht durch eine Reduktion auf abzuarbeitende Listen der Gefahr unterworfen werden, als reine Compliance-Themen behandelt zu werden, also vom hehren Gedanken einer guten Unternehmenskultur abzulenken. Was nötig istDie Aufsichtsbehörden einschließlich der ESAs sollten gerade bei qualitativen Erwägungen, deren Ziel gute Unternehmensführung ist, Zurückhaltung walten lassen. Es ist wichtig, die Unternehmensautonomie und die Verantwortung für dieses Thema bei den Organvertretern beziehungsweise Aktionären zu belassen.Es ist höchste Zeit, dass alle unmittelbar Involvierten sich der Bedeutung dieser sekundären Rechtsquellen bewusst werden. Sie sollten ihrer Verantwortung nachkommen und ihre Kompetenz und Einflussmöglichkeiten an den verschiedensten Stellen nutzen, um das Maß der Regulierung auf allen Stufen der europäischen Rechtssetzung auf das zu beschränken, was nötig ist. Insbesondere gilt es immer zu bedenken, dass Regulierung in jedem Fall einen Eingriff in die unternehmerische Freiheit darstellt. Ein solcher Eingriff ist nur in einem Umfang vertretbar und volkswirtschaftlich sinnvoll, der zum Schutz höherer Rechtsgüter erforderlich ist. Dieser Grundsatz hat auch für die europäische Rechtsentwicklung zu gelten.—-*) Daniela Weber-Rey ist Partnerin bei Clifford Chance.