INVESTMENTFONDS - GASTBEITRAG

Lateinamerika ist mehr als eine Rohstoff-Story

Börsen-Zeitung, 27.6.2012 Auf der Suche nach attraktiven Anlagemöglichkeiten rückt bei immer mehr Investoren Lateinamerika in den Fokus. Viele Staaten Lateinamerikas haben nach der Jahrtausendwende ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum erlebt....

Lateinamerika ist mehr als eine Rohstoff-Story

Auf der Suche nach attraktiven Anlagemöglichkeiten rückt bei immer mehr Investoren Lateinamerika in den Fokus. Viele Staaten Lateinamerikas haben nach der Jahrtausendwende ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum erlebt. Auch die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise konnte diesen Trend nicht stoppen. Zwar ist die Region weiterhin von extremen Gegensätzen geprägt, doch haben ökonomisches Wachstum sowie umfassende wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen dort in vielen Ländern die Lebensverhältnisse der Menschen deutlich verbessert.Die Konjunkturprognose für Lateinamerika ist weiterhin gut: Für 2012 rechnen Experten mit einem Wirtschaftswachstum von knapp 4 %. Das ist deutlich über dem prognostizierten Weltwirtschaftswachstum, was die Dynamik dieser Anlageregion untermauert. Hohe AktienrenditenAuch andere wirtschaftliche Rahmendaten lassen aufhorchen: Die Arbeitslosenquote im städtischen Raum ist auf einen historischen Tiefstand von unter 7 % gefallen, und auch die Inflation verharrt dauerhaft im einstelligen Bereich. Unter dem Strich setzt sich in Lateinamerika eine positive Entwicklung fort, die den Aktienanlegern in den zurückliegenden zehn Jahren eine kumulierte Rendite von 470 % eingebracht hat. Lateinamerika gehört heute zu einer der attraktivsten Anlageregionen der Welt.Die Wende zum Positiven kam Mitte der neunziger Jahre, als der damalige Finanzminister Fernando Henrique Cardoso die brasilianische Zentralbank auf das alleinige Ziel der Inflationssteuerung verpflichtete. Andere Länder wie Mexiko, Chile, Kolumbien oder Peru sind diesem Weg gefolgt und konnten die Inflation dauerhaft eindämmen. Hyperinflation ist in Lateinamerika heute kein Thema mehr.Die erfolgreiche Bekämpfung der Inflation wirkte wie eine Initialzündung. Sie führte zu sinkenden Zinssätzen und einer Steigerung der Reallöhne mit entsprechenden positiven Auswirkungen auf die Binnenkonjunktur. Der steigende Binnenkonsum wiederum führte zu höheren Steuereinnahmen, die zur Reduzierung der Schulden genutzt wurden. Das Ergebnis dieses positiven Dominoeffekts: Die meisten lateinamerikanischen Länder verfügen heute über ein Investment-Grade-Rating. Lateinamerika hat sich von ausländischen Kapitalmärkten emanzipiert – das zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass in dieser Region während der US-Hypothekenkrise weder eine Liquiditätskrise vorherrschte noch das Finanzsystem unter Druck geriet. Treiber BinnenkonjunkturAuch die Aussichten sind gut: Lateinamerika verfügt über die größten Naturressourcen der Welt. In Chile beispielsweise liegen rund 40 % der weltweit bekannten Kupfererzvorkommen. Brasilien wird in den kommenden Jahren dank der Entdeckung der Pre-Salt-Ölfelder zu einem der Hauptölproduzenten der Welt aufsteigen. Venezuela ist reich an Erdgas, und Bolivien verfügt über große Zinnvorräte. Rohstoffe stellen einen wichtigen wirtschaftlichen Faktor für Lateinamerika dar. Lateinamerika ist jedoch mehr als eine reine Rohstoff-Story, zumal deren Exporte weniger als 10 % des BIP ausmachen.Maßgeblicher Treiber für das Wirtschaftswachstum ist vielmehr die Binnenkonjunktur. Die Staaten Lateinamerikas verfügen über eine der jüngsten Bevölkerungen der Welt. Über 50 % der Einwohner sind unter 30 Jahren. Deren steigende Lebensqualität, bedingt durch höhere Einkommen, treibt die Konjunktur an. Unterstützt wird diese Entwicklung von einer immer stärker wachsenden Mittelschicht, die mehr Konsumgüter und Immobilien nachfragt. Davon profitieren Unternehmen, deren Geschäftsaktivitäten sich auf die Binnenmärkte der Region konzentrieren: Banken, Einzelhändler, Konsumgüterhersteller, Wohnungsbauunternehmen, Versorger und Mobilfunkbetreiber. Zudem wird das Kreditwachstum die Binnennachfrage weiterhin ankurbeln. Die Gefahr einer Kreditblase besteht auf dem jetzigen Niveau noch nicht: Die Kreditdurchdringung in den meisten lateinamerikanischen Staaten ist noch immer wesentlich geringer als in vielen anderen Regionen der Welt. Baukräne statt BohrtürmeMit der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und den Olympischen Sommerspielen 2016 finden in Brasilien die beiden weltweit größten und wichtigsten Sportereignisse der Welt statt. Der Bau und die Modernisierung von Stadien, Straßen, Hotels, Flughäfen und des öffentlichen Verkehrs sind mit riesigen Investitionen verbunden und lassen positive Impulse für die Gesamtwirtschaft erwarten. In Summe ist mit Infrastrukturinvestitionen in einem Umfang von rund 450 Mrd. Dollar zu rechnen – eines der größten Infrastrukturbudgets der Welt.Bei allen positiven Entwicklungen dürfen die Risiken, die ein Investment in Lateinamerika mit sich bringt, nicht außer Acht gelassen werden. Die mäßige Performance insbesondere des brasilianischen Aktienmarktes seit Anfang dieses Jahres zeigt, dass sich die lateinamerikanischen Staaten nicht gänzlich der Krise in der Eurozone entziehen können. Die Forderungen europäischer und insbesondere spanischer Banken gegenüber Lateinamerika sind beträchtlich: Die Furcht vor einem massiven Rückzug von Kapital hat die Märkte kurzzeitig nach unten gedrückt. Märkte noch zu illiquideEin weiteres Problem sind die meist noch zu wenig diversifizierten und zu illiquiden Aktienmärkte in der Region. In der Andenregion (Chile, Kolumbien, Peru) gibt es beispielsweise eine Reihe attraktiver Anlagechancen, aber nur wenig investierbare Aktien. Das Problem ist erkannt, und erste strukturelle Änderungen wurden ergriffen. Ein positives Beispiel ist die Gründung der Gemeinschaftsbörse Mercados Integrados Latinoamericanos (MILA). Chile, Kolumbien und Peru betreiben diese gemeinsame Plattform für den Aktienhandel seit nunmehr einem Jahr, und es ist zu erwarten, dass sich dadurch das Anlageuniversum in diesen Märkten deutlich vergrößern wird. Die Staatschefs von Chile, Kolumbien, Mexiko und Peru treiben ihr Vorhaben einer Freihandelszone entlang der lateinamerikanischen Pazifikküste weiter voran. Am Ende könnte ein Markt mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von über 2 000 Mrd. Dollar und über 200 Millionen Verbrauchern stehen. Doch nicht nur strukturell macht die Region Fortschritte: Relativ stabile politische Verhältnisse und eine verlässliche und berechenbare Geldpolitik tragen maßgeblich zur wirtschaftlichen Prosperität bei.Insgesamt hat Lateinamerika bereits viel erreicht, um für Anleger eine interessante Investmentalternative zu sein. Auch wenn sich in turbulenten Zeiten kein Markt als sicherer Hafen erwiesen hat, hat die Region gezeigt, dass sie einen Unterschied machen kann, wenn die Märkte von Fundamentaldaten angetrieben werden. Oder anders gesagt: Wenn das Augenmerk auf Länder- und Unternehmensspezifika wie einer wachsenden Mittelschicht und damit einhergehend einer anziehenden Binnenkonjunktur, einer niedrigen Arbeitslosenquote, Infrastrukturinvestitionen und Rohstoffreichtum liegt, dann kann Lateinamerika die globalen Märkte übertreffen.