RECHT UND KAPITALMARKT - IM INTERVIEW: MICHAEL JOHANNES PILS

Urteil zur Arbeitszeiterfassung "lässt genug Freiräume"

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs bietet Unternehmen Chancen

Urteil zur Arbeitszeiterfassung "lässt genug Freiräume"

Herr Pils, etwa eine Milliarde Überstunden haben Arbeitnehmer 2017 hierzulande unentgeltlich geleistet. Der Europäische Gerichtshof fordert nun Zeiterfassungssysteme für alle. Worum geht es in der Entscheidung?Der Fall spielt in Spanien. Der EuGH musste klären, ob nach europäischem Recht Arbeitszeiten aufgezeichnet werden müssen. In Spanien, das gerade das Arbeitszeitgesetz verschärft hat, werden zwischen 2,6 und 3,5 Millionen Überstunden pro Woche nicht erfasst. Dieser Praxis wollte der EuGH entgegentreten und hat entschieden, dass künftig alle Arbeitsstunden, nicht nur Überstunden dokumentiert werden müssen. An wen richtet sich das Urteil?Zunächst einmal an die Mitgliedstaaten, die entsprechende Dokumentationspflichten für die Unternehmen gesetzlich verankern sollen. Der Gesetzgeber ist daher in erster Linie gefragt. Arbeitszeitdokumentation wird künftig einen höheren Stellenwert einnehmen. Bedeutet das mehr Bürokratie?Nicht unbedingt. Natürlich wird derjenige, der bisher eher stiefmütterlich das Thema Arbeitszeit behandelt hat, verstärkt Handlungsbedarf sehen. Es geht aber nicht darum, Arbeitgebern oder Mitarbeitern Flexibilität zu nehmen. Schon jetzt lässt das Arbeitszeitrecht Flexibilisierungsmöglichkeiten bis hin zu Ausnahmegenehmigungen zu. Zugegeben, das klingt nach trockener Bürokratie. In Zeiten zunehmenden Fachkräftemangels kann sich aber kaum ein Arbeitgeber erlauben, die Work-Life-Balance zu ignorieren oder gar Krankheitsausfälle wegen Überlastung zu riskieren. Wer an die Folgekosten denkt, wird schnell in Gesundheitsprävention investieren. Eine transparentere Erfassung der Arbeitszeit kann Fehlbelastungen sichtbar machen. Das Urteil lässt genug Freiräume, wie ein objektives, verlässliches und angemessenes System ausgestaltet werden kann. Zum Beispiel?Die Richter betonen, dass das von der Größe, Branche oder den Tätigkeiten abhängt. Wenn tätigkeitsbedingt Arbeitszeitverstöße vorgekommen sind, sind andere Maßnahmen zu ergreifen, als in Unternehmen, in denen Mitarbeiter informiert und sensibilisiert mit dem Thema Arbeitszeiten umgehen. Oft reicht eine Excel-Tabelle aus. Es gibt auch clevere App-Lösungen. Bei geringer Gefährdung kann im Idealfall sogar über einen gänzlichen Verzicht des Zeitaufschriebs nachgedacht werden – das Urteil schließt das nicht aus. Können Arbeitgeber auf den Gesetzgeber warten?Das ist riskant, zumal Betriebsräte und Gewerkschaften das Thema für sich entdecken. Deutsche Gerichte dürften auch nicht zuwarten. Daher sollten Unternehmer überprüfen, ob die gelebte Praxis auch mit Blick auf Arbeitsschutz, Datenschutz und betriebliche Mitbestimmung weitgehend rechtskonform ist. Arbeitsschutzbehörden stellen schnell unangenehme Fragen, wenn sie Beanstandungen finden. Bußgelder und schmerzhafte Gewinnabschöpfungen sollte man nicht riskieren. Was wäre zu tun?Informierte Arbeitgeber analysieren den betrieblichen Status quo: Wo gibt es Zeiterfassung und sind die Mitarbeiter geschult? Sind sie ausreichend befähigt, kann auf sie die Verantwortung für die Arbeitszeiterfassung delegiert werden. Der Arbeitgeber muss gleichwohl überprüfen, damit sich nicht schleichend eine rechtswidrige Praxis einnistet. Personalabteilungen betten diese Pflichten oft in ein Programm zur Steigerung der Work-Life-Balance ein. Bietet das Urteil auch Chancen?Ja. Viele Unternehmer beschäftigen sich im Zuge des digitalen Transformationsprozesses eingehend mit der Arbeitszeit-Compliance. Wer hier investiert, wird – abgesehen von Effizienzsteigerung – früher oder später einen Wettbewerbsvorteil haben, gerade im Kampf um Fachkräfte. Drohen dem Wirtschaftsstandort Europa Nachteile? Beispielsweise wird in Asien sprichwörtlich bis zum Umfallen gearbeitet.Asiatische Länder nehmen die Debatten in Europa wahr. Japan hat zum Beispiel sein Arbeitszeitrecht reformiert und führt als Vorbild die höhere Arbeitszeiteffizienz in Deutschland an. International tätige Unternehmen exportieren den strengeren Maßstab – das erleben wir derzeit auch in anderen Bereichen, zum Beispiel im Datenschutz. Dr. Michael Johannes Pils ist Partner von Taylor Wessing. Die Fragen stellte Walther Becker.