Aktionärsrechte in virtuellen HVs gewahrt
In den vergangenen drei Jahren war es aufgrund der Covid-19-Pandemie für Aktiengesellschaften unmöglich, ihre Hauptversammlungen (HVs) wie vorgesehen in Präsenz auszurichten. Die virtuelle Durchführung war zwar spätestens seit dem Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG I) 2009 möglich, jedoch hatten nur wenige Aktiengesellschaften ihre Satzungen entsprechend modifiziert. Daher musste die Bundesregierung mit der Covid-19-Notfallgesetzgebung eine Grundlage dafür schaffen, dass die Unternehmen ihre anstehende HV rechtssicher in einem virtuellen Format ausrichten konnten.
Schnell kam der Vorwurf auf, die virtuellen Versammlungen würden elementare Aktionärsrechte beschneiden. Zentraler Kritikpunkt war die Gestaltung des Auskunftsrechts im Covid-19-Maßnahmengesetz: Das Einreichen von Fragen war ausschließlich vor der HV vorgesehen, und es lag im Ermessen der Gesellschaften, welche Fragen wie beantwortet wurden. Erste rechtswissenschaftliche sowie empirische Analysen der virtuellen HV-Saison 2020 konnten die Vorwürfe in Teilen bestätigen.
Der Gesetzgeber reagierte hierauf und passte den gesetzlichen Rahmen an. Die Fragemöglichkeit wurde zu einem Fragerecht erhoben und die Vorstände wurden verpflichtet, alle Fragen zu beantworten. Kritiker forderten allerdings eine noch stärkere Anpassung der digitalen HV an das Präsenzmodell. Parallel entwickelte sich eine gesellschaftsrechtliche Diskussion um eine generelle Modernisierung der HV-Durchführung.
Der Versachlichung der Diskussion dient eine empirische Untersuchung von 245 HVs von Dax-Unternehmen von 2016 bis 2022. Verglichen wurde dabei die Ausübung der Aktionärs-rechte auf den Versammlungen im Präsenzmodell und im virtuellen Format. Im Fokus standen folgende Rechte: Teilnahmerecht, Recht auf Ergänzung der Tagesordnung, Antragsrecht, Auskunftsrecht sowie das Stimmrecht.
Es zeigt sich ein Trend zunehmender Teilnahme der Aktionäre, der sich zunächst auch in der ersten virtuellen HV-Saison fortsetzte. Allerdings festigte sich die Präsenz der Aktionäre ab 2021 auf einem hohen Niveau oberhalb des vorpandemischen Niveaus. Eine verstärkte Inanspruchnahme der Ausübung der Stimmrechte per Briefwahl ist u. a. darauf zurückzuführen, dass einige Gesellschaften 2020 ihren Aktionären erstmals die Briefwahl anboten.
Der häufig entgegengebrachten Kritik des eingeschränkten Auskunfts- bzw. Fragerechts wurde in der zweiten virtuellen HV-Saison gesetzlich entgegengewirkt. Daneben verlagerte die Vorabveröffentlichung der Vorstandsrede relevante Informationen in das Vorfeld der HV, auf die Aktionäre durch eingereichte Fragen reagieren konnten. Im ersten Jahr der Pandemie veröffentlichten erst rund 36% der inländischen Dax-Gesellschaften die Vorstandsreden auf der Webseite oder im internen Aktionärsportal. Diese Quote erhöhte sich im zweiten Jahr auf 72% und steigerte sich in der aktuellen HV-Saison auf 94%.
Mit Ausnahme von Puma und Hellofresh stellten alle Unternehmen ihren Aktionären die Vorstandsreden vorab zur Verfügung. Dieser Praxisstandard fand schließlich auch in der Gesetzesvorlage Eingang, die der Bundestag Anfang Juli beschlossen hat. Die beiden genannten Unternehmen bildeten auch insgesamt das Schlusslicht im Rahmen eines Governance-Rankings, das neben der Veröffentlichung der Vorstandsrede insbesondere das Gewähren von Stellungnahmen, das Zulassen von Nachfragen sowie Wort- bzw. Redebeiträgen von Aktionären live in der HV berücksichtigte. Sie beschränkten sich in der Ausführung ihrer virtuellen HV lediglich auf die Vorgaben der Covid-19-Gesetzgebung.
Eon dagegen nahm sowohl 2021 als auch 2022 im Ranking den ersten Platz ein, da sie in beiden Jahren die virtuelle HV am stärksten aktionärsorientiert umsetzte und am weitesten über die gesetzlichen Vorgaben hinausging. Eine überdurchschnittlich „gute“ Governance bewies auch die Deutsche Börse, die 2021 bereits auf Platz 2 rangierte und 2022 ihren Platz ebenso wie Eon verteidigte.
Befragung im Dax
Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass das Governance-Ranking der Studie eine hohe Korrelation mit der DVFA Scorecard für Corporate Governance aufwies. Gerade diejenigen Unternehmen, denen in der Vergangenheit bereits von der DVFA eine gute Governance bescheinigt wurde, zeigten sich auch in der Pandemie durch eine aktionärsorientierte Durchführung ihrer virtuellen HV vorbildlich.
Schließlich wurde eine Unternehmensbefragung durchgeführt, an der 30 der 40 Dax-Unternehmen teilnahmen. Die Unternehmen teilten darin u. a. mit, wie viele Fragen von wie vielen Aktionären bei der virtuellen HV eingereicht wurden und wie diese von ihnen beantwortet wurden. Demnach stellten in jeder HV im Durchschnitt 22 Fragesteller insgesamt 172 Fragen. Eine große Spannweite von 27 Fragen im Minimum bis 665 Fragen im Maximum zeigt, dass die Unternehmen teilweise eine hohe dreistellige Anzahl an Fragen auf ihrer HV bewältigen mussten. 18 Gesellschaften gaben dabei an, dass sie sämtliche Fragen einzeln beantworteten, während die übrigen 12 Unternehmen im Durchschnitt etwa 40% der Fragen zusammenfassten, sofern diese thematisch deckungsgleich waren.
Ferner gaben die Unternehmen eine Selbsteinschätzung zu möglichen Einschränkungen auf deren virtueller HV auf einer Skala von 1 bis 10 ab (1 = maximale Einschränkung, 10 = keine Einschränkung). Eine mögliche Einschränkung von Aktionärsrechten bewerteten sie im Durchschnitt mit 9 Punkten und sahen sich damit nahezu gleichwertig mit einer Präsenz-HV. Lediglich ein Unternehmen beurteilte seine virtuelle HV mit einer pessimistischen 5.
In der Gesamtbetrachtung konnte die Untersuchung keine nennenswerten Einschnitte von Aktionärsrechten aufdecken. Das Governance-Ranking hat gezeigt, dass die Gesellschaften mehrheitlich ihre virtuelle HV über die gesetzlichen Vorgaben hinaus aktionärsfreundlich umsetzten und dies von Jahr zu Jahr steigerten. Die überwiegend positive Selbsteinschätzung der Unternehmen bildet damit ein stimmiges Gesamtbild der drei Jahre virtueller HV. Die neue Bundesregierung hatte sich bereits in ihrem Koalitionsvertrag darauf geeinigt, dass „Online-Hauptversammlungen dauerhaft ermöglicht und dabei die Aktionärsrechte uneingeschränkt gewahrt werden sollen“.
Modernisierung nötig
Das Gesetz zur Verstetigung der virtuellen HV wurde am 8. Juli be-schlossen, aber weder Aktionärs- noch Unternehmensvertreter zeigten sich zufrieden mit den Kompromissen, die der Bundestag eingegangen ist. In der rege und teilweise emotional geführten Debatte fordern beide Seiten unterschiedliche Ausprägungen der zukünftigen virtuellen HV.
Die Gefahr besteht, dass Unternehmen die hohen gesetzlichen Anforderungen an die virtuelle HV nicht auf sich nehmen werden und weiterhin die Versammlungen in Präsenz ab-halten.
Zu befürchten ist auch, dass Kapitalgeber ihre Investition von der Eigenkapitalseite auf die Fremdkapitalseite verschieben, da sie nicht mehr bereit sind, das Eigenkapitalrisiko bei Beschneidung ihrer Rechte zu übernehmen. Der Gesetzgeber sollte deshalb eine Grundsatzdebatte beginnen und gemeinsam mit allen Stakeholdern ein modernes Konzept für die Hauptversammlung der Zukunft entwickeln.