Ausufernde Tendenzen in der Lageberichterstattung
Gastbeitrag
Ausufernde Tendenzen in der Lageberichterstattung
Der europäische Green Deal schreitet voran, und die Entscheidungsprobleme im Management der Großunternehmen häufen sich. Man bewegt sich auf unsicherem Terrain: Wird sich die Prognose der Umweltschützer und Sozialpolitiker bestätigen, dass sich die Inkaufnahme kurzfristiger Kostennachteile zugunsten ökologischer, humanitärer und sozialer Reputationsvorteile längerfristig gewinnsteigernd auswirkt? Besteht gar – wie immer häufiger aus juristischen Fachkreisen zu vernehmen – eine Verpflichtung des Vorstands, Umwelt- und Wohlfahrtsziele in der Ziel- und Strategieplanung stärker zu betonen als bisher? Werden die Aktionäre die zeitweilige Abwendung des Unternehmens vom Shareholder-Value-Gedanken zugunsten von mehr Nachhaltigkeit im Geschäftsmodell akzeptieren, oder kommt es – wie zuletzt in den USA am Beispiel Blackrock zu beobachten – zu u.U. folgenschweren Abwanderungsbewegungen wichtiger Investoren?
Tue Gutes und rede darüber
Mit dem Streben nach „grünen“ Reputationsgewinnen ändert sich zugleich die Art und Weise der Außendarstellung. In der jährlichen Lageberichterstattung lautet das Motto fortan: „Tue Gutes und rede darüber“. Das ist nicht nur ein Gebot eigennütziger PR, sondern Pflicht gegenüber der Allgemeinheit, denn der EU-Gesetzgeber will nicht nur die Investoren und das Anlegerpublikum, sondern buchstäblich die gesamte Bevölkerung mit regelmäßigen Informationen über die grüne Transformation der Privatwirtschaft versorgt wissen. Entsprechend umfassend und detailliert sind die Informationen über Unternehmensinterna, die nach der neuen Nachhaltigkeitsrichtlinie der EU (CSRD) über den Lagebericht an die Öffentlichkeit gelangen sollen.
Nahezu unbegrenzte Einblicke
Nachhaltigkeitsberichterstattung in diesem Sinne verlangt nicht nur die Offenlegung marktrelevanter Daten gegenüber den Funktionsträgern der Leistungs- und Finanzwirtschaft, sondern nahezu unbegrenzte Einblicke in alle Einzelheiten der wirtschaftlichen Werdungsprozesse. Das Erscheinungsbild des werbenden Marktanbieters mit einer weitgehend selbstbestimmten PR-Politik verblasst; im Zentrum der Aufmerksamkeit steht fortan das gläserne Unternehmen, das unter der ständigen Beobachtung einer tendenziell wirtschaftskritischen Öffentlichkeit steht und aus wettbewerblichen Gründen den Standards einer grünen Wirtschaft gerecht werden muss.
Nachteile im Wettbewerb drohen
Die Manager der Leistungsanbieter geraten hierdurch unter einen erhöhten Entscheidungsdruck. Das beginnt schon bei der Ziel- und Strategieplanung, also im Umgang mit Unternehmensdaten, die nach herkömmlichem Verständnis zum Kernbestand strikt vertraulicher Unternehmensinterna gehören. Die CSRD erkennt eine solche Vertraulichkeit nicht nur nicht an, sie fordert die Veröffentlichung von zielführenden Plandaten sogar ausdrücklich und mit oberster Priorität. Dumm nur, dass der Unionsgesetzgeber die wettbewerblichen Konsequenzen seines Publizitätskonzepts nicht bedacht hat: Da sich der Empfängerkreis des veröffentlichten Materials nun einmal nicht eingrenzen lässt, erhalten auch die Konkurrenten des Unternehmens Kenntnis von Marktchancen, deren Ausnutzung aus marktwirtschaftlicher Sicht allein dem Ideenurheber, also dem berichtspflichtigen Unternehmen, vorbehalten sein sollte.
Auch Aufsichtsräte gefordert
Die Vorstände stehen jetzt vor einem Dilemma: Sie müssen einerseits ihre Berichte so gestalten, dass sie den neuen Grundsätzen ordnungsmäßiger Rechnungslegung gerecht werden, andererseits aber ihrem Unternehmen die Vorteile des Geheimwettbewerbs möglichst erhalten. An ersten Lösungskonzepten wird in der Rechtsberatungspraxis seit geraumer Zeit gearbeitet, nachdem sich entsprechende Anfragen aus den Führungsetagen der Privatwirtschaft häufen.
Zusätzlicher Beratungsbedarf ist auch für Aufsichtsräte entstanden, die die Ordnungsmäßigkeit der Lageberichterstattung unter Nachhaltigkeitsaspekten überprüfen müssen. Da die Materie neu ist, fehlt es an gefestigten Erfahrungen im Umgang mit den Prüfungshandlungen und -ergebnissen des Jahresabschlussprüfers. Besonders heikel ist die Abbildung von Compliance-Risiken, weil die neuen Berichtsvorschriften nicht zuletzt darauf abzielen, das Interesse klagefreudiger NGOs und krawallbereiter Aktivisten zu wecken und die Unternehmen dadurch ökologisch-sozial zu disziplinieren.
Haftungsrisiken nehmen zu
Bei nachteiligen Auswirkungen des Geschäftsbetriebs auf die Umwelt erhöhen sich die Haftungsrisiken in dem Maße, in dem der Genauigkeitsgrad der Außenkommunikation zunimmt. Mutwillig überspitzt könnte man sagen: Die Granularität der Pflichtberichte hat ihre optimale Wirkung erzielt, wenn der Vorstand mit Billigung des Aufsichtsrats Anreize für Umweltklagen gegen das Unternehmen aussendet und sich bei dieser Gelegenheit durch Selbstbezichtigungen sein eigenes haftungsrechtliches Grab schaufelt.
Gänzlich neue Herausforderungen
Dass damit nicht das letzte Wort gesprochen sein kann, liegt auf der Hand, aber der Teufel steckt wie immer im Detail. Kopfzerbrechen bereitet unter anderem die Frage, wie genau die Beschreibung des Risikomanagementsystems (RMS) ausfallen muss. Nach den verschärften Publizitätsregeln sind Compliance-Risiken getrennt von anderen Risikokategorien darzustellen. Dabei ist dem Publikum hinreichend nachvollziehbar zu eröffnen, welche Compliance-Risiken konkret betroffen sind und mit welchen Folgen sie sich in der Umwelt auswirken können. Fazit: Da die Verrechtlichung der Privatwirtschaft auch vor den Maschinenräumen der Unternehmen nicht mehr haltmacht, stehen Vorstände und Aufsichtsräte vor gänzlich neuen Herausforderungen!