Bringdienste liefern sich wildes Rennen
Von Helmut Kipp, Frankfurt
Das Versprechen klingt beinahe unglaublich: Lebensmittel zu Supermarktpreisen, geliefert an die Haustür binnen zehn Minuten für eine Gebühr von mickrigen 1,80 Euro. Kann solch ein Geschäftsmodell funktionieren, fragt man sich nicht nur in der Handelsbranche. Derzeit arbeiten die superschnellen Lieferdienste mit astronomischen Verlusten, deren Höhe in aller Regel im Verborgenen bleibt. Der Aufbau der kleinen Lagerhäuser, wo die Kuriere ihre Rucksäcke mit den bestellten Waren befüllen und sich mit dem E-Bike auf den Weg zum Kunden machen, und die Notwendigkeit, das Delivery-Angebot breit bekannt zu machen, verschlingen Unsummen.
Im Lockdown hat der Online-Verkauf von Lebensmitteln, der hierzulande lange relativ wenig Resonanz fand, einen Boom erlebt. Laut einer Befragung des Digitalverbands Bitkom nutzen immerhin 7% der Menschen in Deutschland Expressdienste wie Gorillas und Flink. 26% bestellen zumindest hin und wieder Lebensmittel im Internet. Im Vergleich zu 2020, als die Corona-Einschränkungen schärfer waren und es noch keinen Impfschutz gab, sei der Anteil um lediglich 4 Prozentpunkte gesunken. Die Online-Besteller kaufen im Online-Supermarkt wie rewe.de und Amazon Fresh, bei Ebay oder in Online-Hofläden, abonnieren Gemüsekisten oder nutzen Liefer-Apps. Zwar dürfte das Wachstum mit der Eindämmung der Pandemie wieder sinken, doch gehen Branchenexperten wie Mathias Gehrckens, Geschäftsführer Products/Retail der Unternehmens- und Strategieberatung Accenture Deutschland, davon aus, dass die Veränderungen im Kaufverhalten von Dauer sind.
Darauf setzen auch die internationalen Risikokapitalgeber. Sie pumpen Milliarden in die junge Branche, deren Protagonisten mitunter erst während der Pandemie gegründet wurden und für die Verluste fast keine Rolle spielen. Es geht um möglichst schnelles Wachstum und die Verdrängung von Konkurrenten. Pionier für diese Art Geschäftsmodell ist das US-Unternehmen Gopuff, das 2013 gegründet wurde und nun die Expansion in Europa forcieren will. Im Juli füllte Gopuff in einer Finanzierungsrunde, an der sich der japanische Investor Softbank beteiligte, die Kasse weiter mit 1 Mrd. Dollar auf. Dabei stieg die Bewertung des Unternehmens auf 15 Mrd. Dollar.
Von solchen Beträgen sind die europäischen Player noch weit entfernt. Doch etliche haben es in ungewöhnlich kurzer Zeit auf Wertansätze von mehr als 1 Mrd. Dollar geschafft und gelten damit als Einhorn. Die in Berlin ansässige Gorillas, gegründet im Mai 2020 von CEO Kagan Sümer, rühmt sich, unter Europas Start-ups am schnellsten Einhorn-Status erreicht zu haben, und zwar im März bei der von Altinvestor Coatue Management angeführten Finanzierung über 290 Mill. Dollar. Im September machten Meldungen über eine neuerliche Geldbeschaffung die Runde. Diesmal geht es um ein Volumen von knapp 1 Mrd. Dollar und eine Bewertung in der Größenordnung von 3 Mrd. Dollar. Mit im Boot ist der Essenslieferdienst Delivery Hero. Der vor gut einem Jahr in den Dax aufgestiegene Konzern soll rund 200 Mill. Dollar investieren, obwohl sich CEO und Mitgründer Niklas Östberg mehrfach skeptisch zu Gorillas geäußert und öffentlich versichert hat, dass ein Engagement bei dem Konkurrenten keinen Mehrwert bringe.
Bündnis mit Rewe
Ähnlich flink ist der Konkurrent Flink unterwegs, bei dem der führende US-Essenslieferdienst Doordash zu einer Bewertung oberhalb von 2 Mrd. Dollar einsteigt. Dem vor weniger als einem Jahr gegründeten Unternehmen fließen bis zu 600 Mill. Dollar zu. Erst im Juni hatte Flink bei einer von der Internetgruppe Prosus angeführten Finanzierungsrunde 240 Mill. Dollar eingeworben. Zudem verbündete sich Flink mit der zweitgrößten deutschen Lebensmittelhandelskette Rewe, die den Bringdienst exklusiv beliefert – nach Einschätzung von Handelsexperten ein cleverer Schachzug.
Gorillas und Flink zählen zu den heißesten Start-ups in Europa. Hierzulande sind sie die bekanntesten Express-Lieferdienste, aber längst nicht die einzigen. Nach dem Start in Berlin will die türkische Getir den hiesigen Markt aufrollen. Noch im laufenden Jahr sollen sechs weitere deutsche Städte dazukommen, kündigte Gründer und CEO Nazim Salur im September an. In Großbritannien und der Türkei sei man bereits klarer Marktführer. Das wolle Getir auch in Deutschland werden. Allein im laufenden Jahr haben Investoren in drei Finanzierungsrunden knapp 1 Mrd. Dollar in das 2015 gegründete Unternehmen gepumpt, dessen Fahrer mit E-Mopeds unterwegs sind, und die Bewertung der jungen Firma zuletzt auf rund 7,5 Mrd. Dollar getrieben.
Auch Delivery Hero tummelt sich wieder auf dem deutschen Markt. Der ursprünglich auf Essensbestellungen fokussierte Konzern baut in vielen Ländern kleine Lagerhäuser für die schnelle Auslieferung von Produkten für den täglichen Bedarf wie Lebensmittel und Haushaltswaren auf, Q-Commerce genannt, und kehrt unter der Marke Foodpanda auf den Heimatmarkt zurück. Ihr ursprüngliches Deutschlandgeschäft hatte Delivery Hero im Dezember 2018 für knapp 1 Mrd. Euro an die heutige Just Eat Takeaway.com verkauft, die Muttergesellschaft von Lieferando, die in Deutschland den Markt für Essenslieferungen beherrscht. Nach einer Anlaufphase in Berlin will Delivery Hero im Herbst in Frankfurt, Hamburg und München an den Start gehen. Bis Jahresende sollen gemäß Ankündigung im August weitere Städte folgen.
Picnic mit Milchmann-Prinzip
Gemächlicher lassen es Picnic, Bringmeister und Flaschenpost angehen. Die von der tschechischen Investmentgruppe Rockaway übernommene Bringmeister bietet Lieferungen binnen 60 Minuten an, während die zur Oetker-Gruppe gehörende Flaschenpost auf die Auslieferung von Getränken binnen 120 Minuten spezialisiert ist und sich inzwischen Richtung Lebensmittel-Sortimenter entwickelt. Die 2015 gegründete Picnic hingegen arbeitet nach dem Milchmann-Prinzip. Das niederländische Unternehmen, das in diesem Jahr auf 1 Mrd. Euro Umsatz kommen will, liefert Lebensmittel mit Elektrofahrzeugen zu festgelegten Terminen aus. Das hat den Vorteil, dass – anderes als bei den Turbo-Diensten – Routen optimiert werden können.
Das Geschäftsmodell ähnelt in gewisser Weise den rollenden Minigeschäften, die in den fünfziger und sechziger Jahren, als viele Familien noch kein Auto besaßen, ländliche Gebiete versorgten. Im September füllte Picnic den Finanzvorrat mit einer 600 Mill. Euro schweren Finanzierung auf, bei der die Bill & Melinda Gates Stiftung eine führende Rolle spielte. Mit den Einnahmen will das Start-up die Expansion in Deutschland und Frankreich vorantreiben. Strategisch hat sich Picnic mit Edeka verbündet. Das Start-up soll der Online-Arm des größten deutschen Lebensmittelhändlers werden.
Einig sind sich Branchenexperten darin, dass der Markt für Lieferdienste vollkommen überhitzt ist. Vor allem die Turbo-Dienste ähneln Geldverbrennungsanlagen. Die Verluste von Gorillas vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen hat der Analyst Clément Genelot von der Investmentbank Bryan Garnier unlängst auf 40 bis 50% des Umsatzes veranschlagt. Bei den Fahrern, die für ihre anstrengende Arbeit Minilöhne erhalten, können die 10-Minuten-Dienste kaum sparen. Schon jetzt machen bei Gorillas Rider mobil gegen die Arbeitsbedingungen, wie die anhaltenden Auseinandersetzungen mit der Firmenleitung samt Arbeitsniederlegungen zeigen.
Aufgrund der kurzen Lieferzeit ist es für die Expressdienste praktisch unmöglich, durch Bündelung von Fahrten Skaleneffekte zu erzielen. Im Schnitt soll ein Rider vier Touren pro Stunde schaffen, was bei 1,80 Euro pro Fahrt 7,20 Euro an Gebühren einspielt. Schon der mickrige Stundenlohn liegt die Hälfte darüber. Handelsprofessor Erik Maier von der HHL Leipzig Graduate School of Management hält eine Marktkonsolidierung für unausweichlich, um Marketingkosten senken und Liefergebühren erhöhen zu können. Delivery-Hero-Chef Östberg soll bereits dafür geworben haben, Gorillas mit Flink zu fusionieren. Verbindungen auf der Eigentümerseite gibt es, denn Prosus ist sowohl bei Flink als auch bei Delivery Hero investiert. Doch mit dem Einstieg des aggressiv wachsenden US-Konzerns Doordash bei Flink scheint dieser Weg verbaut.
Maiers Kalkulation zeigt, dass im Quick Commerce jede Lieferung etwa 1,60 Euro operativen Verlust verursacht. Einschließlich des Aufwands für Lager, Zahlungsabwicklung, Marketing, Verwaltung und IT steigt der Verlust auf 5,50 Euro je Lieferung. Eine höhere Rohertragsmarge könne nur durch steigende Preise erreicht werden, schlussfolgert Maier. Das aber würde das Wachstum bremsen, weil die Warenkörbe kleiner werden.
Auch Accenture-Berater Gehrckens rechnet mit einer Marktkonsolidierung, ähnlich wie bei den Essensdiensten. Seiner Meinung nach benötigen die Lieferfirmen einen Einkaufspartner, um zu überleben. Denn nur so sei ein optimiertes Sourcing möglich. „Neben der Logistikmarge brauchen die Lieferanten eine Marge am Sortiment“, betont der Berater. Wer einfach nur im Großhandel einkaufe und die Produkte zum Kunden fahre, könne keine ausreichenden Deckungsbeiträge erwirtschaften. Die strukturelle Gewinnfähigkeit von Konzepten wie Picnic und rewe.de beurteilt Gehrckens durchaus zuversichtlich, sieht aber die ultraschnelle Belieferung skeptischer: „Im Moment ist das ein Kampf um Marktanteile, der auf keinen Fall profitabel ist.“
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Börsengänge durch die Hintertür (4.10.)