Chaostage vor dem Klimagipfel
hip London
Großbritannien steht vor einer Marktbereinigung: Seit Jahresbeginn haben sich die Preise für Erdgas im Großhandel verdreifacht. Zu den Gründen dafür gehört das Wiederanfahren der Weltwirtschaft, aber auch niedrige Reserven und die Notwendigkeit, mehr Gas für die Stromerzeugung einzusetzen, weil die Windkraft wetterbedingt weniger dazu beitrug.
Das Land mag sich als Vorreiter bei der Energiewende sehen. Weil aber beim Erreichen der Klimaziele wenig koordiniert vorgegangen wurde, steht es vor dem Klimagipfel im November in Glasgow vor erheblichen Problemen. Die British-Gas-Mutter Centrica hatte 2017 ihren größten Erdgasspeicher Rough stillgelegt, aus dem sich ein Zehntel der Nachfrage bestreiten ließ. Dadurch hat sich die Preisvolatilität erhöht. Anders als viele Länder kann das Vereinigte Königreich aber noch auf eine eigene Gas- und Ölförderung und zuverlässige Lieferanten wie Norwegen zurückgreifen.
Die Verbraucher sind durch die von Boris Johnsons Amtsvorgängerin Theresa May eingeführte Preisobergrenze vor bösen Überraschungen in ihren Strom- und Gasrechnungen geschützt. Viele Energievertriebsfirmen können die gestiegenen Kosten deshalb nicht an die Kunden weiterreichen. Sie können es sich aber auch nicht leisten, sie weiter zu den ursprünglich versprochenen Preisen zu beliefern. Die Nummer 6 in diesem Geschäft, Bulb Energy, hofft auf Rettung durch einen Merger oder eine Kapitalspritze von Investoren.
Das Unternehmen mit 1,7 Millionen Kunden lässt sich von Lazard beraten. Zu seinen Anteilseignern gehört Yuri Milners Risikokapitalgesellschaft DST Global und der Hedgefonds Magnetar. Vier kleinere Firmen haben die Geschäftstätigkeit bereits eingestellt, darunter People’s Energy aus Edinburgh und Utility Point aus Dorset.
Der Regulierer Ofgem stellt in solchen Fällen sicher, dass die privaten Haushalte weiter beliefert werden und kein Geld verlieren, sollten sie Vorauszahlungen geleistet haben. Die Kunden von People’s Energy wurden British Gas überantwortet. Das Unternehmen wurde vor vier Jahren von einem schottischen Ehepaar per Crowdfunding an den Start gebracht und warb mit einer transparenten und ethischeren Arbeitsweise. Es versprach zudem, drei Viertel seines Gewinns an die Kunden weiterzureichen. Für die großen Versorger ist es keinesfalls attraktiv, Kunden von gescheiterten Rivalen zu übernehmen, denn sie haben sich lediglich ausreichend abgesichert, um ihre Preiszusagen an bestehende Kunden einzuhalten. Anfang des Jahres gab es rund 70 Energievertriebsfirmen in Großbritannien. Wie die BBC unter Berufung auf Branchenkreise berichtet, könnten es Ende des Jahres nur noch zehn sein.
Unerwartete Nebenwirkung
Zum unerwarteten Fallout der steigenden Gaspreise gehört, dass plötzlich CO2 für die Fleischwirtschaft fehlt. Das Industriegas wird dort nicht nur für die Kühlung und Lagerung eingesetzt, sondern auch zur Betäubung von Tieren vor der Schlachtung. Mindestens drei Fünftel der britischen CO2-Nachfrage wird vom US-Düngemittelhersteller CF Industries gedeckt, der wegen der hohen Gaspreise die Produktion in seinen Werken in Teesside und Cheshire vergangene Woche vorübergehend eingestellt hat. Richard Walker, der Geschäftsführer des Tiefkühl-Discounters Iceland Foods, kritisierte auf Twitter, dass eine ausländische Firma über so viel Marktmacht verfügen kann. „Sollten sich solche nationalen Sicherheitsangelegenheiten nicht unter staatlicher Kontrolle befinden?“, fragte Walker.
Die Regierung wird dagegen nicht müde zu betonen, dass es sich um eine vorübergehende Verknappung handele. Tony Will, der Chef von CF Industries, traf am Sonntag zu Krisengesprächen mit Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng in London ein. Ergebnisse gibt es bislang keine.
Wertberichtigt Seite 6