Corporate Cash, das Dry Powder von morgen
Selten waren wir Zeugen derart gegenläufiger makroökonomischer Faktoren: auf der einen Seite die erheblichen Nachwirkungen der Pandemie (Lieferketten, Staatsausgaben etc.) und die fundamentalen Umwälzungen am Energiemarkt aufgrund des Kriegs vor unserer Haustür (man ist von Berlin aus bekanntermaßen schneller in der Ukraine als in Paris). Auf der anderen Seite (wieder) solide Börsenkurse, unter anderem getragen durch hohe Unternehmensgewinne und anhaltend hohe Ausschüttungen.
Unterschiedlichste Risiken
Eine Zahl bildet diese Widersprüchlichkeiten gut ab: die von Unternehmen bei Banken vorgehaltenen liquiden Mittel. Im jüngsten Freshfields Corporate Cash Barometer zeigen wir: Deutsche Unternehmen melden 2022 mit 50 Mrd. Euro das mit Abstand höchste Wachstum in der Eurozone, gefolgt von den Niederlanden mit einem Plus von 26 Mrd. Euro. Deutschland und die Niederlande zusammen machen das gesamte Bargeldwachstum der Unternehmen in der Eurozone unter sich aus, nicht zuletzt, weil es in Frankreich, Österreich, Spanien und Italien nur ein minimales oder negatives Bargeldwachstum gab.
Relativ zum BIP ergeben sich aber nach wie vor erhebliche Unterschiede: Die Barmittel der Unternehmen in der Eurozone belaufen sich derzeit auf 25,9% des nominalen BIP, wobei die niederländischen Unternehmen mit 37,5% an erster und die französischen mit 33,0% an zweiter Stelle stehen. Deutschland und Österreich bilden das Schlusslicht mit jeweils 20,4% des nominalen BIP, wohl vor allem aufgrund des immensen Anteils des öffentlichen Sektors am BIP. Der neuerliche Anstieg zeigt, dass nach wie vor ordentlich verdient wird, es aber nicht notwendigerweise vielfältige Verwendungsmöglichkeiten für diesen Cash gibt. Die herkömmlichen Investitionsmöglichkeiten im Inland sind mit erheblichen mittel- und langfristigen ordnungspolitischen und demografischen Risiken behaftet. Investitionen im Ausland haben üblicherweise einen längeren Vorlauf, so dass sich kein unmittelbarer Substitutionseffekt einstellt.
Verlustgeschäft
Hinzu tritt das Element der Vorsorge. Wenn ein Sturm aufzieht, fährt man das Auto in die Garage und macht keine Erkundungstouren. Diese Vorsorge ist eine kalkulierte Vorsorge, denn es gibt sie nicht umsonst. Neben gestiegenen Zinsen für Unternehmenskredite, die teilweise wieder als Bargeld angelegt werden, nagt auch die Inflation an den Guthaben. Nach mehr als einem Jahrzehnt sinkender Einlagenzinsen erhält man zwar wieder Zinsen für seine Guthaben, doch die Einlagenzinsen steigen wie immer langsamer und verschärfen den Effekt aufgrund der Inflation: Bei realer statt nominaler Betrachtung sind die Einlagenzinsen nach wie vor negativ und die vorgehaltene Liquidität der Unternehmen ist ein Verlustgeschäft. Nach den Berechnungen im Freshfields-Barometer derzeit rund 316 Mrd. Euro jährlich, mehr als das BIP von Finnland oder Portugal. Zwar steht dem spiegelbildlich die reale Entwertung der aufgenommenen Kredite entgegen. Trotzdem bleibt die Inflation ein zehrender Faktor, der als Teil der Kosten für die Vorsorge betrachtet werden muss.
Pragmatismus gefragt
Der Trend zu mehr Vorsorge dürfte auch anhalten. Zwar gab es zum Wirtschaftswachstum und auch in zarten Ansätzen zur Inflation zuletzt Signale der Beruhigung, doch die Prognosen vieler Unternehmen bleiben vorsichtig. Hinzu kommen die größeren Herausforderungen bei der (Re-)Finanzierung. In den langen Laufzeitbändern hat sich die Nachfrage nach Unternehmensanleihen deutlich reduziert und ist auch sehr viel preissensitiver geworden.
Bei den Unternehmenskrediten am kurzen Laufzeitende sieht es ähnlich aus. Gerade bei den großen Tickets bei der Syndizierung von Unternehmenskrediten greifen vermehrt Vorsicht und Zurückhaltung um sich. Zusätzlicher Druck kommt durch bevorstehende Fälligkeiten im nächsten Jahr und mehr noch im Jahr 2024.
Entsprechend ist auch bei Unternehmensakquisitionen Pragmatismus gefragt, nicht weniges wird derzeit aufgrund von Schwierigkeiten bei der Finanzierbarkeit zurückgestellt. Aufgeschoben ist aber bekanntlich nicht aufgehoben. Die Cash-Versicherung heute ist das „Dry Powder“ von morgen – und an Verwendungsmöglichkeiten sollte es nicht fehlen. Neben den bereits angesprochenen Auslandsinvestitionen werden sich auch bei den sogenannten Distressed Assets Chancen ergeben.
Einfacher wird es aber nicht. Die aktuelle Diskussion in der Europäischen Union, dass bald nicht nur ausländische Direktinvestitionen in die EU (inbound), sondern auch Investitionen europäischer Unternehmen in Drittstaaten (outbound) einer hoheitlichen Investitionskontrolle unterzogen werden könnten, verspricht zusätzliche Komplexität bei zukünftig notwendigen Neuausrichtungen. Die Diskussion über deutsche Investitionsgarantien, also Förderinstrumente, die Direktinvestitionen in Entwicklungs- und Schwellenländern gegen politische Risiken absichern, ist ein weiterer Vorbote für den steigenden Appetit an politischer Mitsprache.
Trend zur Verlagerung
Den Verwendungsmöglichkeiten für freiwerdende Mittel aus Corporate-Cash-Beständen tut dies aber keinen Abbruch, am Ende wird die Politik hier nichts aufhalten können. Allenfalls wird sie den Trend zu einer Verlagerung der Investitionen ins Ausland befeuern. Wenn sich nämlich die makroökonomischen Wolken zumindest teilweise verziehen und sich auch zur Abwechslung keine neuen Katastrophen abzeichnen, entfällt die Rechtfertigung für die Cash-Vorsorge und die damit verbundenen erheblichen Kosten. Die stattliche Summe der Unternehmen auf den Bankkonten ist damit nicht nur eine Versicherung für die Unternehmen, sondern letztendlich für uns alle, auch wenn ein Großteil davon im Ausland landen dürfte.
Rick van Aerssen ist Global Managing Partner von Freshfields Bruckhaus Deringer.
In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.