Gas-Reserven

Das wahre Problem mit dem russischen Gas

Die geografischen Bedingungen bringen es mit sich, dass Gazprom mit seinen Gaslieferungen nicht immer so funktioniert, wie die EU das gerne hätte.

Das wahre Problem mit dem russischen Gas

Von Eduard Steiner, Moskau

Wer einmal das Privileg hatte, mit dem Hubschrauber von der westsibirischen Stadt Nadym – 2200 Kilometer nordöstlich von Moskau – aus die Halbinsel Jamal entlangzufliegen, bleibt auf immer gebannt vom dortigen Schauspiel der Natur. Wie erstarrte Riesenschlangen überziehen mäandernde Rinnsale die karge Tundra. Ab und an lassen sich Rentierherden in der Farbmonotonie der gefrorenen Böden ausmachen. Nach 566 Kilometern und drei Stunden Flug erscheint die erste Siedlung. Einige Tausend Arbeiter wuseln zwischen den Häuserreihen, die einer Kaserne gleichen. Alle paar Wochen verlassen sie diese zur Erholung Richtung Süden, weil die Gegend nördlich des Polarkreises eigentlich nicht für Menschen gemacht ist.

Doch hat die Natur gerade dort in der Lagerstätte der gleichnamigen Siedlung Bowanenkowo gewaltige Reserven an Gas entstehen lassen. 4,9 Bill. Kubikmeter sollen es laut Gaskonzern Gazprom sein, womit die gesamte EU mehr als zwölf Jahre versorgt werden könnte. Gemeinsam mit den anderen 17 Lagerstätten auf Jamal, die ebenso Gazprom gehören, sind es 20,4 Bill. Kubikmeter.

Genau die geografischen Bedingungen bringen es allerdings mit sich, dass Gazprom mit seinen Gaslieferungen nicht immer so funktioniert, wie die EU das gerne hätte. Nicht einmal dann, wenn der Konzern, der 40% des europäischen Gasimports deckt, das wollte. Aktuell sieht er sich dem Vorwurf ausgesetzt, wesentlich dafür verantwortlich zu sein, dass der Gaspreis, der ohnehin von der riesigen globalen Nachfrage und dem mangelnden Angebot hochgetrieben wird, durch die Decke geht, weil Gazprom eben nur so viel wie vereinbart liefere, obwohl mehr gebraucht würde. Der Gaspreis ist inzwischen höher als am Gipfel der Rohstoffhausse 2008.

Der weltweit größte Gaskonzern wird – wie alle seine Konkurrenten auch – Unsummen verdienen, obwohl er dieses Jahr nur 183 Mrd. Kubikmeter in seinen Hauptmarkt Europa pumpen wird. Das ist zwar signifikant mehr als die vorjährigen 174,9 Mrd. Aber doch weit weniger als die 200 Mrd. Kubikmeter in den Jahren 2018 und 2019. Mit seiner Rolle als Swingproducer – also als marktbestimmender Akteur, der seine Förderung schnell anpassen und so Preisschocks abfedern kann – könnte er leicht die damaligen Rekordmengen liefern, wenn er nur wollte, meinen Kritiker im Westen.

Doch kann er wirklich? Das Oxford Institute for Energy Studies (OIES) meldet in einer Analyse („Why are gas prices so high?“) vom September durchaus Zweifel an. „Es ist auch möglich, dass der Gazprom-Konzern ganz einfach keine überschüssigen Volumina hat, die er nach Europa liefern und dem Spotmarkt hinzufügen könnte – Volumina, die über die langfristigen Lieferverträge hinausgehen“, heißt es dort: Jener Konzern, der sich immer als „zuverlässiger Lieferant“ brüste, werde laut OIES sicher nicht zugeben, dass er bereits am Anschlag produziere und dennoch Schwierigkeiten habe, die innerrussische Versorgung zu sichern, die in- und ausländischen Speicher zu füllen, die ausländischen Langfristverträge zu erfüllen und dann noch zusätzliche Volumina nach Europa zu pumpen.

Demnach läge es nicht an Gazproms Unwillen, keine zusätzlichen Mengen zu liefern. Demnach hätte Gazprom einfach ein Problem. Die Sache ist freilich komplexer, als sie zunächst erscheint. Faktum ist, dass – wie Kritiker anmerken – Gazprom eine beschleunigte Eröffnung seiner neuen Ostseepipeline Nord Stream 2 bei den deutschen und den EU-Behörden durchsetzen möchte, weil er eine zusätzliche Lieferung über die Ukraine nicht in Betracht zieht. Das deutete auch Kremlsprecher Dmitri Peskow an, als er meinte, eine Entspannung auf dem Gasmarkt sei erst nach der Inbetriebnahme von Nord Stream 2 zu erwarten.

Faktum ist aber auch, dass sich das russische Gasförderzentrum aus der westsibirischen Region Nadym-Pur-Taz 600 Kilometer nördlich auf die Halbinsel Jamal verschiebt, womit sich auch die Transportrouten ändern. Das liegt in erster Linie daran, dass die Lagerstätten in Nadym-Pur-Taz reif, sprich immer mehr erschöpft sind. Aus ihnen aber hat Gazprom seit den 1970er Jahren die Rohre des sogenannten zentralen und südlichen Pipelinekorridors befüllt, die über die Ukraine nach Westeuropa bzw. nach Südrussland führen. „Aus den traditionellen Lagerstätten wird derzeit bereits am Limit gefördert“, sagt Konstantin Simonow, Chef der Moskauer Stiftung für Energiesicherheit, im Ge­spräch mit der Börsen-Zeitung. „Der Export aus dem neuen Förderzentrum Jamal aber ist ökonomisch nur sinnvoll, wenn er über den Nordkorridor, sprich über Nord Stream 1 und Nord Stream 2 führt. Würde man das Gas aus Jamal über den mittleren Korridor, also über die Ukraine, ins bayrische Waidhaus pumpen, wären das 1900 Kilometer Umweg.“

Die EU wünscht sich freilich, dass Russland diesen Winter zusätzliche Leitungskapazitäten durch die Ukraine bucht. Hier schaltet Gazprom auf stur und bleibt bei den für 2021 vereinbarten 40 Mrd. Kubikmeter. Im Vorjahr waren es noch 65 Mrd. Kubikmeter.

Hohe Transit-Gebühren

Die Reduktion der Transitmengen durch die Ukraine erklärt sich freilich nicht nur aus dem ökonomischen Moment der längeren Transportroute. Sie erklärt sich auch damit, dass die Durchleitung durch Transitstaaten aufgrund der Gebühren teurer kommt als durch Direktpipelines, die durch die Ostsee nach Deutschland und durch das Schwarze Meer in die Türkei führen und im Besitz von Gazprom selbst sind, heißt es in einer anderen OIES-Studie („Big Bounce: Russian gas amid market tightness“). Die Durchleitungsgebühren durch die Ukraine je Kilometer seien „signifikant höher“ als selbst die durch Weißrussland und Polen: „Das macht jede zusätzliche Buchung von Transportkapazitäten über die Ukraine zur ökonomisch unattraktivsten Option für Gazprom.“

Wie viel Gas aber hätte Gazprom derzeit überhaupt übrig, um Europa besser zu versorgen? Gazprom spricht von 5,6 Mrd. Kubikmetern, die es natürlich über Nord Stream 2 liefern will. Simonows Schätzungen zufolge sollten es 8 Mrd. Kubikmeter sein. Gazprom fördert jedenfalls Gas, was das Zeug hält. Im ersten Halbjahr waren es 4,5% mehr als im Vorkrisenjahr 2019. Nur werden vorerst eben die Speicher im Inland gefüllt.

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