RECHT UND KAPITALMARKT

Dem Aufsichtsrat droht die Marginalisierung

ESMA-Konsultationspapier zur Marktmissbrauchsverordnung geht zu weit - BaFin ist gefordert

Dem Aufsichtsrat droht die Marginalisierung

Von Lutz Krämer *)Das Europäische Parlament und die EU-Kommission haben mit der Verabschiedung der Marktmissbrauchsverordnung und der jüngst veröffentlichten Durchführungsverordnungen zu technischen Standards, Insiderlisten sowie diversen delegierten Rechtsetzungsakten vor dem Stichtag des 3. Juli 2016 weitgehend ihre Arbeit getan. Auf dem sogenannten Level III stehen jedoch neben der jüngst veröffentlichten Fragen und Antworten noch entscheidende Veröffentlichungen aus.Von vielen Unternehmen in Deutschland noch weitgehend unbeachtet verdient der derzeitige ESMA-Vorschlag zur künftigen Selbstbefreiung von der Ad-hoc-Publizität Beachtung. Diese wird in einem Draft Consultation Paper der ESMA vom 28. Januar 2016 in einer Weise konkretisiert, dass in Ländern mit einem Two-Tier-System mit Vorstand und Aufsichtsrat für eine temporäre Selbstbefreiung vor der Aufsichtsratsbefassung praktisch kein Raum mehr bliebe.Es erstaunt, dass dieser Vorstoß bisher außerhalb der Anhörungen kaum Widerhall gefunden hat, obwohl bereits das Vorläuferpapier der damals noch als CESR firmierenden europäischen Aufsicht bereits den Geist der Marginalisierung des Aufsichtsrats atmete. Extreme PraxisrelevanzIm Konsultationsentwurf wird als Ausgangspunkt für die künftig anzuerkennenden berechtigten Interessen des Emittenten an einer vorübergehenden Selbstbefreiung die Präambel der Marktmissbrauchsverordnung (MAR) zitiert. Eine kurzfristig mögliche Selbstbefreiung soll danach grundsätzlich nur noch dann zulässig sein, wenn andernfalls die Durchführung einer Transaktion konkret gefährdet sei und nicht, (wie Recital 50 der MAR vorsieht), deren Durchführung möglicherweise betroffen ist.Noch weitgehender und eine effiziente Aufsichtsratsarbeit unterminierend, sind die in Rz. 78 des Konsultationspapiers aufgeführten kumulativen vier Voraussetzungen, die die ESMA künftig als zwingende Voraussetzung für eine Selbstbefreiung fordern will: Zum einen müsste eine Ad-hoc-Meldung bereits nach der Vorstandsentscheidung mit dem konkreten Hinweis auf die noch ausstehende Aufsichtsratszustimmung (!) eine korrekte Beurteilung der Information durch die Kapitalmarktöffentlichkeit unmöglich machen. Zum Zweiten muss diese vorzeitige Veröffentlichung die Freiheit der Entscheidung des Aufsichtsrats ausschließen und zudem müsste drittens der Aufsichtsrat seine Entscheidung – trotz vorübergehender Selbstbefreiung! – nach Möglichkeit am selben Tage treffen. Nimmt man schließlich noch die vierte Voraussetzung hinzu, gemäß der eine abweichende Entscheidung des Aufsichtsrats gegenüber dem Vorstandsbeschluss nicht zu erwarten sein dürfte, würde die Aufsichtsratsbefassung künftig praktisch nie mehr mehrere Tage nach der Vorstandsentscheidung erfolgen können und würde zu einer reinen Förmlichkeit degradiert.Angesichts der in den letzten Jahren kontinuierlich verbesserten Aufsichtsratstätigkeit und der intensiven Befassung gerade mit zustimmungspflichtigen Sachverhalten kann diese ESMA-Stellungnahme nur als flagranter Angriff auf das Two-Tier-System gewertet werden: Gerade diejenigen Entscheidungen des Aufsichtsrats, die potenziell kursrelevant und damit ad-hoc-publizitätspflichtig sind, müssten bereits vor einer intensiven Befassung und gegebenenfalls abweichenden Aufsichtsratsentscheidung veröffentlicht werden.Das Erfordernis einer gleichtägigen Aufsichtsratsbefassung wäre wegen der Dokumentationserfordernisse wichtiger Entscheidungen und nicht zuletzt der BGH-Anforderungen an die sorgfältige Ausübung der Aufsichtsratstätigkeit praktisch nie zu erfüllen. Würde nämlich der Vorstand mit seiner Beschlussfassung bis zum Tage der Aufsichtsratsbefassung zuwarten, könnte dies als eine Umgehung der mit dem Konsultationspapier bezweckten schnellstmöglichen Information des Kapitalmarkts gewertet werden.Wie realitätsfern die Ausführungen im Konsultationspapier sind, erschließt sich an folgendem dort aufgeführten Beispiel: Die ESMA konstatiert, dass eine Zustimmung des Aufsichtsrats zu Kapitalerhöhungen in der Vergangenheit eine Selbstbefreiung bis zur Aufsichtsratsentscheidung über eine etwaige aktuelle Kapitalerhöhung bereits deshalb ausschließe, weil aufgrund der früheren Zustimmungsentscheidungen eine erneute Zustimmung ganz überwiegend wahrscheinlich sei.Dieselbe – abwegige – Argumentation wird für Zustimmungen zu Dividendenentscheidungen angeführt. In der Konsequenz hieße dies, dass Einladungen zu Hauptversammlungen mit wesentlichen Beschlussgegenständen nicht mehr abschließend in der Bilanzaufsichtsratssitzung des Aufsichtsrats behandelt und geändert werden könnten, sondern gerade die wichtigen Entscheidungen zur Dividendenhöhe und etwaigen Kapitalerhöhungen bereits nach Vorstandsbefassung veröffentlicht werden müssten.Abgesehen davon, dass Kapitalerhöhungen mit und ohne Bezugsrecht, mit Vorabplatzierungen oder als sog. Deep-Discount-Bezugskapitalerhöhungen ganz unterschiedlich strukturiert sind und die früheren Aufsichtsratsentscheidungen keine Ergebnisprognose zulassen, spielt stets auch das jeweilige Kapitalmarktumfeld und das deshalb vom Vorstand und/oder Aufsichtsrat für richtig gehaltene Volumen der beabsichtigen Kapitalerhöhung eine entscheidende Rolle. Es zeugt von der Unkenntnis der Parameter möglicher Entscheidungsalternativen, hier von früheren Zustimmungsbeschlüssen des Aufsichtsrats, die zudem erst nach Veränderungen der Emissionsstruktur gefasst worden sein können, auf eine zukünftige Entscheidung schließen zu wollen. Einhellige KritikEs bedarf keiner besonderen Betonung, dass der Entwurf des ESMA-Konsultationspapiers aus den Ländern des Two-Tier-Systems (Deutschland, Österreich, aber z.B. auch Polen und Tschechien) praktisch einhellig kritisiert worden ist. Banken, Anwaltskanzleien, das Deutsche Aktieninstitut (DAI), der Verband der Europäischen Emittenten sowie der Verband der Deutschen Kreditwirtschaft haben die vorgeschlagenen engen Voraussetzungen für künftige Selbstbefreiungen einhellig als unpraktikabel und fehlerhaft kritisiert. Umso irritierender ist es, dass bis zum heutigen Zeitpunkt keine Signale der ESMA bekannt sind, gemäß denen in der Endfassung des Konsultationspapiers die Voraussetzungen für eine Selbstbefreiung sowohl für M & A-Transaktionen als auch für andere wesentliche Beschlussgegenstände, wie z. B. Kapitalerhöhungen, geändert würden.Es ist aber erforderlich, dass ESMA zeitnah zumindest belastbare Signale aussendet, eine angemessene Adjustierung zu planen. Ansonsten stellt sich für Emittenten die drängende Frage, wie sie ab dem 3. Juli 2016 mit bereits beschlossenen Selbstbefreiungen oder unmittelbar bevorstehenden insiderrelevanten Prozessen umgehen sollen.An die BaFin ist daher zu appellieren, im Falle des Ausbleibens einer rechtzeitigen Korrektur des Konsultationspapiers im Einklang mit dem Emittentenleitfaden das Regel-Ausnahmeprinzip zwischen grundsätzlicher Veröffentlichung von Insiderinformationen und begründeter Selbstbefreiung nachzujustieren. Die BaFin wäre hierzu auch berechtigt, weil das Konsultationspapier als Level-III-Maßnahme ersichtlich über die Marktmissbrauchsverordnung als Level-1-Maßnahme hinausgeht und insofern eine dysfunktionale Auslegung begründet. Andernfalls droht Emittenten und anderen Kapitalmarktteilnehmern eine nicht legitimierte Gleichschaltung von One-Tier- und Two-Tier-Systemen.Ungeachtet der geforderten Klarstellung durch die BaFin werden sich die Emittenten allerdings künftig darauf einstellen müssen, im Rahmen der Selbstorganisationspflicht des Aufsichtsrats dessen Entscheidung – soweit für angemessene Vorbereitung tunlich – möglichst nahe an die Vorstandsentscheidung zu terminieren. Bereits heute unterzieht die BaFin nicht nur die Zulässigkeit, sondern auch die Dauer einer Selbstbefreiung zunehmend einer intensiven Prüfung. Dies gilt für Transaktionen ebenso wie für die zügige Ad-hoc-Veröffentlichung überraschender Finanzzahlen. Den Fokus hierauf hat die ESMA, wenngleich überzogen und inhaltlich abzulehnen, nachhaltig gesetzt.—-*) Dr. Lutz Krämer ist Partner der Sozietät White & Case.