Deutsche Biotechnologie gewinnt an Finanzkraft
Deutsche Biotechnologie gewinnt an Finanzkraft
Mehr Mittel aus Wagniskapital und Allianzen mit Pharmakonzernen − Start-ups müssen in früher Phase darben
swa Frankfurt
Die deutsche Biotech-Industrie zeigt sich nach Abflauen der Corona-Sonderkonjunktur in besserer Verfassung als vor Beginn der Pandemie. Branchenexperte Klaus Ort, Partner der Beratungs- und Prüfungsgesellschaft EY, spricht von einem positiven Trend und verweist auf hohe Innovationskraft und internationale Attraktivität der Firmen. Um das vorhandene Potenzial voll auszuschöpfen, könnte die Branche allerdings noch mehr Kapital gebrauchen.
Dass der Trend nach oben zeigt, lässt sich an einem Personalaufbau um 10% sowie einem Anstieg der Ausgaben für Forschung und Entwicklung in gleicher prozentualer Höhe ablesen. Auch Umsatz und Marktkapitalisierung liegen höher als in den Jahren vor der Pandemie, wenn man die Milliarden-Erlöse aus den Corona-Impfstoffen herausrechnet.
Medikamente und Lebensmittel
Oliver Schacht, Präsident des Branchenverbands Bio Deutschland, hebt die zunehmende Reife und Breite der klinischen Wirkstoffpipeline hervor. Die Projekte umfassten innovative Therapien aus allen Arten von Medikamentenklassen. Der Fokus liege nach wie vor auf der Krebsforschung, zweitgrößtes Gebiet sind Infektionserkrankungen. „Gut gefüllte Pipelines sind ein starkes Signal der Branche − an potenzielle Investoren, aber auch an die Gesellschaft“, unterstreicht Schacht.
Große Finanzierungsrunden
Die Attraktivität der Branche zeigt sich nach Einschätzung von Ort auch in den Finanzierungsrunden 2023 und an großvolumigen M&A-Deals Anfang 2024. Das Finanzierungsvolumen sei im vergangenen Jahr um 17% auf 1,1 Mrd. Euro geklettert. Mit einem Sprung von 20% auf 547 Mill. Euro im Segment der Follow-on-Finanzierungen sei die höchste jemals von börsennotierten Unternehmen eingesammelte Summe erreicht worden, wenn die außergewöhnlichen Jahre 2018, 2020 und 2021 außen vor bleiben.
Die über Venture Capital eingeworbene Summe stieg im vergangenen Jahr um 15% auf 533 Mill. Euro und übersteigt das Niveau von vor der Pandemie. Dabei sticht ein Unternehmen heraus, sammelte doch die auf Radiopharmaka gegen schwer zu behandelnde Krebsformen spezialisierte Münchener ITM im Juni 2023 allein 255 Mill. Euro ein. Involviert waren sechs internationale Investoren. Es war die drittgrößte VC-Runde aller Zeiten. In den Finanzierungsrunden standen neben den Radiopharmaka der ITM auch Gen- und Zelltherapien sowie neuartige Lebensmittel im Fokus. Die zweitgrößte Runde gelang mit 72 Mill. Euro im April Complement Therapeutics.
Tubulis punktet
Dass es 2024 mit großen Biotech-Finanzierungen weitergeht, zeigt sich am Martinsrieder Krebsspezialisten Tubulis. Das Biotech-Unternehmen sammelte im März in einer Serie-B-Runde 128 Mill. Euro ein, angeführt von EQT Life Sciences (Niederlande) sowie Nextech Invest (Schweiz).
Unbefriedigend ist aus Sicht der Branchenexperten die Finanzierungslage für Biotech-Firmen in früher Phase. EY-Partner Ort spricht von einer „alarmierenden“ Situation. Die unzureichende Frühphasenfinanzierung aus Venture Capital sei eine Bedrohung für das nachhaltige Wachstum der Branche. Im vergangenen Jahr hätten Biotech-Start-ups in der Frühphase in Summe gerade mal 203 Mill. Euro eingesammelt. Das sei der niedrigste Wert in sechs Jahren.
Starke Allianzen
Deutlich üppiger läuft es in Produktallianzen mit der Pharmaindustrie, die sich angesichts drohender Patentabläufe aktiv nach neuen Wirkstoffen in der Biotech-Szene umschaut. Top-Deal war die bis zu 3,7 Mrd. Euro schwere Partnerschaft von Evotec mit BMS.
Das M&A-Geschehen verlief 2023 verhalten. Dabei waren Branchenfirmen wie Biontech, Qiagen oder Ariceum selbst aktiv mit Zukäufen. Im laufenden Jahr kam die Kehrtwende. Größter Deal ist bislang die Übernahme von Morphosys durch Novartis für 2,7 Mrd. Euro. Mehr als 1 Mrd. Euro legt Novo Nordisk für das Biotech-Start-up Cardior auf den Tisch, um sich ein Mittel gegen Herzinsuffizienz zu sichern.