Sanktionen

Energie-Embargo wäre ein Milliarden­schock

Westeuropa sucht nach Möglichkeiten, ohne russisches Erdgas auszukommen – und wappnet sich für den Fall, dass entweder der Kreml den Hahn zudreht oder der politische Druck für schärfere Sanktionen in ein vollständiges Energieembargo ausartet. Für viele deutsche Unternehmen wäre das verheerend.

Energie-Embargo wäre ein Milliarden­schock

cru Frankfurt

Bisher wurde bei westlichen Sanktionen versucht, die Importe von Gas, Kohle und Öl aus Russland nicht zu beeinträchtigen, weil die Verwundbarkeit an dieser Stelle zu groß ist. Sollte es jedoch wegen der Eskalation des Krieges in der Ukraine zu einem Embargo kommen, träfe das deutsche Energieunternehmen wie den Gasproduzenten Wintershall Dea, den Gasimporteur Uniper und den Stromkonzern RWE, aber auch alle auf Strom angewiesenen produzierenden Unternehmen und mit Gas heizenden Verbraucher hart, weil der Anteil russischer Lieferungen am Endenergieverbrauch hierzulande bei im Vergleich hohen 19% liegt.

Marktkapitalisierung halbiert

Der Börsenwert von Uniper hat sich seit Kriegsbeginn auf 6,6 Mrd. Euro halbiert. Wintershall Dea hat bereits angekündigt, ihren Anteil an der Finanzierung der russischen Pipeline Nord Stream 2 von 1 Mrd. Euro komplett abzuschreiben. Und bei RWE kämen laut Goldman-Sachs-Analyst Alberto Gandolfi im schlimmsten Fall die Verluste aus russischen Gasimportkontrakten auf 1,1 Mrd. bis 1,9 Mrd. Euro. Auch Eon ist mit der 15,5-%-Beteiligung an Nord Stream 1 direkt betroffen.

„Wir müssen uns von der Abhängigkeit von russischem Gas und Öl befreien, und zwar viel schneller, als wir erwartet haben“, sagte EU-Klimachef Frans Timmermans am Donnerstag im BBC Radio 4. „Die EU-Kommission wird nächste Woche Vorschläge unterbreiten, um dies so schnell wie möglich zu erreichen.“

Europas Politiker müssen nun die Kosten eines 40-prozentigen Einbruchs in der Gasversorgung gegen den Druck abwägen, der auf Putin ausgeübt würde. Gas ist von entscheidender Bedeutung, da es in Kraftwerken, der Schwerindustrie und in Haushalten als Brennstoff dient. Die Energieversorger greifen darauf zurück, wenn die Produktion von wetterabhängigen erneuerbaren Energien wie Windturbinen und Solarzellen vorübergehend abnimmt. Gaskraftwerke sollten bis vor kurzem auch aus Klimaschutzgründen Kohlekraftwerke ersetzen.

Mit dem Frühling nähert sich zwar das Ende der Heizsaison. Zu diesem Zeitpunkt fließt in der Regel mehr Gas in die Speichertanks, anstatt für Wärme und Strom verbrannt zu werden. Das Risiko besteht jedoch darin, dass die Versorgungsunternehmen gezwungen sind, ihre Vorräte zu überhöhten Kosten aufzufüllen, oder dass der Puffer, der vor dem nächsten Winter vorhanden sein muss, geschwächt wird. Laut der Brüsseler Forschungsgruppe Bruegel würde der Bezug von mehr LNG die EU-Länder mit einer Rechnung von 70 Mrd. Euro belasten, um die Gasspeicher diesen Sommer wieder aufzufüllen.

Analysten von Allianz Research ziehen Parallelen zum 27-prozentigen Verlust von Strom aus Kernkraft in Japan nach Fukushima: „Analysiert man die Reaktion auf Preiserhöhungen, so stellt man fest, dass die Erwartung einer dauerhaften Strompreiserhöhung von 40% und einer Gaspreiserhöhung von 100% die Nachfrage um 8 bis 10% senken und das Energieangebot aus Erdgas und seinen Substituten kurzfristig um 8 bis 10% erhöhen würde, um den Gesamtverlust der russischen Gasimporte auszugleichen“, kommentiert Analyst Markus Zimmer. „Die EU-Endkundenpreiserhöhung von 30% für Strom und 50% für Gas in den zwölf Monaten bis Januar 2022 ist bereits ein Schritt in diese Richtung.“

Aktionsplan notwendig

Europa brauche einen Aktionsplan, um die Energiesicherheit für den nächsten Winter zu gewährleisten. Die Wiedererlangung der Energiesouveränität erfordere, die Erzeugung erneuerbarer Energien in der EU innerhalb von sechs Jahren um 1 Exajoule (278 Terawattstunden) pro Jahr oder um die Menge der russischen Gasimporte zu steigern. Dies würde laut Allianz Research jährliche Investitionen von 170 Mrd. Euro oder 1,3% des BIP der EU erfordern: „Unser Vorschlag sieht für den größten Beitragszahler, Deutschland, einen Zuwachs von 44 TWh pro Jahr vor, was mit den mittelfristigen Zielen der angekündigten Überarbeitung des deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetzes übereinstimmt.“

Deutschland bezog nach Daten der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe zuletzt über die Hälfte seines Erdgasbedarfs aus Russland. Das Gas strömt über Transitleitungen durch die Ukraine und Tschechien sowie durch Belarus und Polen und über Nord Stream 1, an der Eon und Wintershall Dea beteiligt sind, durch die Ostsee. Die Zertifizierung von Nord Stream 2 ist wegen des Angriffs auf die Ukraine gestoppt. Weitere wichtige Erdgaslieferanten für die Bundesrepublik sind Norwegen (gut 20%) und die Niederlande (etwa 11%). Die deutsche Förderung ist rückläufig, aus ihr lassen sich noch 5 bis 6% des heimischen Verbrauchs decken. Zwischen 10 und 15% des Stromverbrauchs werden aus Gas gedeckt.

Riesige potenzielle Lücke

Entsprechend schwierig wäre ein Verzicht, wie aktuelle Berechnungen des von Oxford-Ökonomen gegründeten Analysehauses Aurora Energy Research belegen. Ein Szenario „Komplettausfall der russischen Gasimporte“ würde demnach im nächsten Winter eine Lücke von 109 Milliarden Kubikmeter – das sind 38% der vor der Krise erwarteten Importe – reißen. „Ein Teil der fehlenden Mengen ließe sich durch eine Kombination aus höheren LNG-Importen und höherer Produktion aus inländischen Quellen schließen“, urteilt Aurora-Forschungsdirektor Richard Howard. „Doch auch wenn alle Mittel ausgereizt werden, bleibt eine Lücke von bis zu 33 Milliarden Kubikmeter, die durch Gasspeicherreserven oder Senkung des Verbrauchs geschlossen werden müsste.“

Durch eine Kombination aus dem Wechsel von Gas auf Kohle, dem Weiterbetrieb von bis zu 25 Gigawatt zur Stilllegung vorgesehener Kern- und Kohlekraftwerke in ganz Europa, der Umstellung auf andere Brennstoffe in der Industrie sowie Effizienzsteigerungen in den Haushalten ließe sich die Gasnachfrage laut Aurora um bis zu 14% senken, um eine etwaige Versorgungslücke zu schließen. Das sei aber mit erheblichen Herausforderungen verbunden. Das gelte vor allem für die Verlängerung der Lebensdauer von Kern- und Kohlekraftwerken, da Stilllegungspläne zum Teil weit fortgeschritten sind und eine Brennstoffversorgung erst wieder aufgebaut werden müsste.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.