EU-Lieferketten-Richtlinie muss auf den Prüfstand!
Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 und der drei Tage später erfolgten Ankündigung der verteidigungspolitischen Zeitenwende durch Bundeskanzler Olaf Scholz werden seit Jahren als unumstößlich geltende wirtschafts- und arbeitsrechtliche sowie umweltpolitische Glaubenssätze und Parteiprogramme in Frage gestellt. Die Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft in Katar wird seit den Respektbezeugungen zur Ermöglichung von Flüssiggaslieferungen als lediglich unschön und der beschleunigte Bau von Flüssiggasterminals ohne bestandskräftige Baugenehmigung als alternativlos erachtet. Selbst das Mantra des Ausstiegs aus der Atomkraft schwankt sogar bei langjährigen Atomkraftgegnern, seit die Energiekrise unverkennbar lange Schatten auf die deutsche Wirtschaft wirft.
Unzeitgemäße Betrachtungen
Die Bundesregierung hat mit der Berücksichtigung von Lieferketten im Chemie- und Grundstoffsektor sowie der auch grundgesetzlich geschützten Versorgungssicherheit der Bürger und Verbraucher mit Energie eine sachlich und zeitlich mehrfach abgestufte Abwägungsentscheidung getroffen, als sie trotz massiven Drucks der Ukraine und zahlreicher Verbündeter die russischen Gas- und auch Öllieferungen nicht mit einem sofortigen kompletten Importstopp belegt und damit eine naheliegende Sanktion aufgrund des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges zunächst vermieden hat. Diese politische Entscheidung entspricht auf Unternehmensebene einer Business-Judgement-Entscheidung und stößt allgemein aufgrund der überragenden Bedeutung der Versorgungssicherheit weitgehend auf Verständnis.
Aus juristischer Sicht können sich sowohl die Bundesregierung als auch Unternehmen und Verbraucher glücklich schätzen, dass die derzeit im Entwurf vorliegende EU-Lieferketten-Richtlinie (genauer: Corporate Sustainability Due Diligence Directive) sowie das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) noch nicht anwendbar sind. Sollte die Lieferketten-Richtlinie in der aktuellen Entwurfsfassung in Kraft treten, wäre eine solche Interessenabwägung nämlich nicht mehr möglich. Bereits das deutsche LkSG verpflichtet zur Einführung anlassbezogener Sorgfaltsprozesse, um u. a. die Einhaltung wesentlicher Menschenrechte in Lieferketten zu verbessern. Auch menschenrechtliche oder umweltbezogene Risiken, die durch im Ausland tätige, von der Konzernmutter kontrollierte Tochterunternehmen oder Zulieferer verursacht werden, fallen in den Sorgfaltspflichtenbereich der deutschen Konzernmutter.
Ein Blick in den europäischen Richtlinienentwurf offenbart, dass künftig z. B. bereits bei potenziellen Menschenrechtsverletzungen, die sich aus etablierten Geschäftsbeziehungen ergeben, ein – nachhaltig erfolgversprechendes – Bemühen um eine Einstellung der Verletzungen erforderlich sein wird; alternativ bleibt nur der Abbruch der Geschäftsbeziehungen bzw. im Falle eines landesweiten Verstoßes der unternehmerische Rückzug. Denn anders als das deutsche LkSG sieht die Lieferketten-Richtlinie nicht nur staatliche Sanktionen für Verstöße, sondern auch eine zivilrechtliche Haftung der Unternehmen vor, um sie unter bestimmten Bedingungen für aus einer Vernachlässigung ihrer Sorgfaltspflicht entstandene Schäden haftbar zu machen.
Keine erneute Diskussion
Wer indes erwartet hatte, dass die im Fall von Russland erfolgte Abwägung wahrscheinlicher Auswirkungen der Sanktionspakete mit nationalen Interessen zu erneuter Diskussion der Lieferketten-Richtlinie führen würde und vorgreifliche nationale und EU-Interessen wie die Versorgungssicherheit wegen der jüngsten Erfahrungen Berücksichtigung finden, sieht sich enttäuscht. Gerade auf der unternehmensindividuellen Ebene, an der die Richtlinie anknüpft, sollen keine Rückausnahmen (z. B. drohende Insolvenz) zulässig oder nationale Interessen analog dem im Verwaltungsrecht etablierten Abwägungskriterium der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (z. B. zugunsten der Versorgungssicherheit in den Bereichen Medizin oder Energie) berücksichtigt werden können. Die geplante EU-Regulierung der Lieferketten lässt keinerlei Abwägung zu, anders als das in anderen ebenfalls auf EU-Ebene regulierten Rechtsbereichen wie im Kartellrecht und bei der Investitionskontrolle gelebte Praxis ist.
Das daraus folgende Ausmaß der künftigen Risikoexposition deutscher Unternehmen gegenüber Ländern mit wichtigen Produktions- und Vertriebsstandorten sowie Rohstoffen, z. B. China und anderen asiatischen und arabischen Ländern, lässt den Betrachter ungläubig staunen: Bedeutsame Sektoren wie die deutsche Automobilindustrie (VW, Mercedes, BMW), die Chipindustrie oder die – auch für die medizinische Versorgung essenzielle – Chemiebranche wären im Falle forcierter (Teil)-Rückzüge oder Produktionsverlagerungen nicht mehr in der Lage, ihre Produktion aufrechtzuerhalten und Lieferverpflichtungen zu erfüllen. Den Unternehmen stünden weder ein staatlicher Genehmigungsprozess mit Interessenabwägung analog kartell-, finanzaufsichtsrechtlichen oder investitionskontrollrechtlichen Verfahren noch interne Abwägungsmöglichkeiten im Rahmen der Business Judgement Rule zur Verfügung.
Safe Harbour erforderlich
Die vollständige Delegation aller arbeits-, umwelt- und menschenrechtspolitischen Belange vom Staat auf die Unternehmen mit unabdingbaren Handlungspflichten und Haftungsfolgen unter gänzlicher Ausklammerung makroökonomischer Konsequenzen müsste spätestens nach Veröffentlichung der Xingjiang Papers zu tiefen Sorgenfalten bei global agierenden Unternehmen führen. Gelöst werden könnte dieser unbestreitbare Mangel jeglicher Abwägungsmechanismen bei Lieferkettenrisiken durch Aufnahme eines mindestens temporären Safe Harbours, der von einem Mitgliedstaat mit der Begründung vorrangiger nationaler Interessen und dem Nachweis konkret drohender erheblicher Nachteile geltend gemacht werden müsste. Ähnliche Erwägungen dürften auch bei der Durchsetzung des LkSG durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) und dessen künftiger Sanktionspraxis gelten.
Regierungsverantwortung
Dass sich deutsche Unternehmen mit der legitimen Forderung nach einer erforderlichen Abwägung zwischen ESG-Kriterien und handfesten wirtschaftlichen Nachteilen und drohenden Versorgungsengpässen nur in wenigen Ausnahmefällen „aus der Deckung wagen“, ist politisch nachvollziehbar. Die konkret absehbaren Wirkungen der Lieferketten-Richtlinie auf die Exportnation Deutschland und die Verhandlungs- und Marktposition ihrer Unternehmen werden jedoch – sollte sie in der im letzten Februar veröffentlichten Entwurfsfassung Gesetz werden – besonders im Vergleich zu US-amerikanischen, britischen und asiatischen Wettbewerbern bedeutend sein.
Das Regierungshandeln ist in der aktuellen weltpolitischen Situation von schwierigen Abwägungshandlungen geprägt. Insoweit ist die bisherige passive Haltung der Regierung zur Lieferketten-Richtlinie unverständlich. Deutschland ebenso wie andere EU-Länder benötigen vor einem menschenrechtsbedingt forcierten (Teil-)Rückzug ihrer Unternehmen aus bedeutsamen Ländern eine institutionalisierte Abwägung nationaler Interessen. Die ad hoc gegenüber Russland gefundenen Lösungen ebenso wie Vereinbarungen mit einigen Drittstaaten zur Absicherung der Energieversorgung in Deutschland mögen unzureichend und angreifbar sein; sie konnten jedoch gleichsam auf einem leeren Blatt Papier nach bestem Wissen und Gewissen in Anerkennung aller als wichtig erachteter Kriterien erfolgen.
Ehrlicher Blick angeraten
Eine EU-Lieferketten-Richtlinie, die nach dem Russland-Schock und einer vermeintlichen Zeitenwende den Umgang mit potenziellen Menschenrechtsverletzungen allein auf unternehmensindividuelle Entscheidungsprozesse mit Haftungsfolgen verlagert und den von der Politik zu entscheidenden energie-, arbeits-, wirtschafts- und umweltpolitischen Abwägungsfragen aus dem Weg geht, ist inakzeptabel. Die Bundesregierung sollte gemeinsam mit anderen exportorientierten Nationen einen ehrlichen Blick in die Zukunft wagen und sich fragen, ob die aktuelle weltpolitische Lage der richtige Zeitpunkt für die Verabschiedung einer Lieferketten-Richtlinie in der aktuell vorgeschlagenen Fassung ist.
Die Abwägung zwischen übergeordneten Werten mit nationalen Interessen im globalen Kontext ist nicht per se illegitim. Der Staat reguliert andere Bereiche unternehmerischen Handelns durch Eingriffsbefugnisse mit dem Ziel sorgfältiger Interessenabwägungen. Bei Umsetzung einer Lieferketten-Richtlinie sollte er seiner Verantwortung ebenso gerecht werden, wie das in anderen Bereichen etablierte Praxis ist.
Damit keine Missverständnisse aufkommen – die von der Richtlinie verfolgten Schutzgüter sind richtig und wichtig. Bedenkliche Demokratiedefizite tun sich aber auf, wenn Parlament und Regierung ihre Verantwortung nach Art eines Autopiloten an die Unternehmen outsourcen und sich dabei selbst der politischen Entscheidungsspielräume berauben. Damit tut die Politik weder sich noch den Unternehmen einen Gefallen.