Börsengänge

Exodus deutscher Unternehmen löst Alarm aus

Jungunternehmen, die viel Kapital brauchen und Durststrecken ohne Gewinn bis zur Marktreife ihrer Ideen überstehen müssen, gehen lieber in den USA als in Deutschland an die Börse. Das Deutsche Aktieninstitut fordert Reformen.

Exodus deutscher Unternehmen löst Alarm aus

cru Frankfurt

In den vergangenen zehn Jahren haben 20% der Börsengänge deutscher Unternehmen im Ausland stattgefunden. Als prominenteste Beispiele nennt das Deutsche Aktieninstitut, das zwei Dutzend Unternehmen zu den Gründen ihrer Abwanderung befragt hat, die beiden seit der Pandemie allseits bekannten und erfolgreichen Impfstoffhersteller Biontech und Curevac – aber auch der Berliner Chemiekonzern Atotec, der Online-Modehändler Mytheresa oder die Biotech-Firma Immatics sind in den USA an die Börse gegangen. Gemeinsam mit der Wirtschaftskanzlei Rittershaus, die an der Studie mitgewirkt hat, fordert die Denkfabrik nun von der Politik, in Deutschland den Kapitalmarkt und sein Ökosystem zu verbessern. Nur so könnten mehr zukunftsfähige Arbeitsplätze entstehen.

„Deutschland ist mit Blick auf die Finanzierung junger Wachstumsunternehmen ein Entwicklungsland“, sagte Christine Bortenlänger, geschäftsführende Vorständin des Deutschen Aktieninstituts, am Mittwoch in Frankfurt. „Vor allem Unternehmen mit spezialisiertem Ge­schäftsmodell und hohem Finanzierungsbedarf sind auf ausländische Investoren angewiesen. Wenn wir innovative Wachstumsunternehmen in Deutschland halten wollen, muss die Politik jetzt energisch gegensteuern“, fordert Bortenlänger.

Ansparverfahren mit Aktien

Damit in Deutschland mehr Finanzierungsmittel über den Kapitalmarkt zur Verfügung gestellt werden, brauche es ein Ansparverfahren mit Aktien in der Altersvorsorge. Andere Länder, wie beispielsweise Schweden oder die USA, zeigten, dass die Menschen davon im Alter profitieren und die finanzstarken Pensionsfonds in diesen Ländern dafür sorgen, dass die Entwicklung von Wachstumsunternehmen und Börsengängen einen nachhaltigen Schub erhält. Zwischen dem Altersvorsorgesystem und mehr Börsengängen gebe es einen positiven Zusammenhang.

Um Aktien für die Altersvorsorge und den Vermögensaufbau noch attraktiver zu machen, müssten die steuerlichen Rahmenbedingungen verbessert werden. Die Wiedereinführung der Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen bei Aktien nach einem Jahr, wie sie auch für Bitcoin und Gold gilt, sei dabei ein wichtiger Aspekt.

Dringender Reformbedarf bestehe auch im deutschen Aktienrecht, das nicht auf die Bedürfnisse von Wachstumsunternehmen zugeschnitten sei. So flüchteten viele deutsche Unternehmen beispielsweise ins niederländische Recht, weil dieses ihnen beim Bezugsrechtsausschluss und der Höhe des genehmigten Kapitals größere Flexibilität einräumt. „Dort sind Overnight-Kapitalerhöhungen kein Problem“, fasst Christof Hettich, Partner bei der Kanzlei Rittershaus, zusammen.

Angesichts der vielen Kapitalmarktpflichten, die Unternehmen mit dem Gang an die Börse zu beachten haben, wäre es angemessen, jungen Wachstumsunternehmen eine mehrjährige Eingewöhnungsphase einzuräumen, in der sie nur einen Teil ihrer kapitalmarktrechtlichen Pflichten erfüllen müssen. In den USA gebe es bereits eine solche Phase, andere Länder wie beispielsweise Großbritannien denken laut darüber nach, sie einzuführen.

In Wahlkampf eingespeist

Aktieninstitut und Rittershaus schildern die Folgen der Kapitalmarktschwäche: Ende Oktober 2020 brachten es die Tech-Unternehmen in den USA auf eine Marktkapitalisierung von 12,8 Bill. Dollar. Das entspricht 61% vom Bruttoinlandsprodukt der USA. Zum selben Zeitpunkt lag der Börsenwert deutscher Tech-Firmen bei 275 Mrd. Dollar. Das entsprach nur 7% vom hiesigen BIP. „Die Zeit wird knapp. Mit den neuen Technologien entgehen uns auch Chancen auf künftige Beschäftigung. Die Arbeitsplätze wandern dorthin ab, wo die Hauptsitze der Unternehmen sind und wo die finanzierenden Investoren sind“, warnt Aktieninstitutschefin Bortenlänger, die ihre Ideen auch in den Wahlkampf der Parteien eingespeist hat.