Jahrzehntelange Verspätung
Jeder fünfte Zug hat Verspätung. Für die jahrzehntelange Verspätung der Schnellstrecke München-Berlin ist ausnahmsweise nicht die Bahn verantwortlich, sondern die zaudernde Politik. Jetzt naht die Inbetriebnahme.Von Ulli Gericke, BerlinMit den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit (VDE) wollte die erste gesamtdeutsche Bundesregierung die maroden ostdeutschen Verkehrswege, vor allem aber die seit Jahrzehnten gekappten Straßen- und Schienenverbindungen zwischen Ost- und Westdeutschland wiederherstellen. Gut 27 Jahre nach der Wiedervereinigung wird die Deutsche Bahn mit der Schnellstrecke Berlin-München das letzte “grenzüberschreitende” Projekt in Betrieb nehmen. Mit dem Fahrplanwechsel im Dezember geht VDE 8.1 ans Netz, mit 17 Jahren Verspätung und mit 10 Mrd. Euro nicht ganz doppelt so teuer wie ursprünglich geplant. Und fast ebenso groß wie die Kosten sind die Hoffnungen der Bahn auf deutlich steigende Passagierzahlen – auf dieser Strecke, aber auch darüber hinaus.Die Bahn hatte nie den geringsten Zweifel, dass sich diese Verbindung rentiert. Andere Schnellstrecken in der Republik zeigten stets eine steil steigende Anzahl von Reisenden, wenn die Fahrzeiten deutlich kürzer wurden. Hamburg-Berlin oder Frankfurt-Köln sind die jüngsten Beispiele. Dagegen schlängeln sich die ICE-Züge zwischen München und Berlin bis heute – dem ursprünglichen Verlauf von 1851 folgend – durch das malerische Saaletal, mit einer Geschwindigkeit von gefühlt 40 km/h. Das kostet Zeit. Mehr als sechs Stunden ist ein Reisender unterwegs von der Isar an die Spree.Das ist zu lang. Dieses Empfinden hat nicht nur jeder Bahnfahrer zwischen der heimlichen und der richtigen Hauptstadt. Unzählige Untersuchungen belegen, dass es bei vier Stunden Fahrzeit eine Schmerzgrenze gibt. Fährt der Zug länger, weichen die Reisenden auf andere Verkehrsmittel aus, auf das Auto, das Flugzeug oder den Bus, der zu einem sehr viel günstigeren Preis auch nur eine Stunde länger benötigt. Diese Schmerzgrenze soll nun mit der neuen Schnellstrecke geschliffen werden. Die künftigen “Sprinter” werden die 600 Kilometer Distanz in drei Stunden und 55 Minuten schaffen, die Normalzüge sollen gut vier Stunden unterwegs sein. Viel schneller lässt sich diese Strecke auch mit dem Flugzeug nicht bewältigen, benötigt der Reisende doch schon eine Stunde, um von der Münchener Innenstadt zum Flughafen zu kommen. Mit dem Einchecken, der Sicherheitskontrolle und der Flugzeit kommen schnell dreieinhalb Stunden zusammen, die immer wieder von Drängeln, Schlangestehen und Warten unterbrochen werden – bequemes Reisen geht anders. Das Gesamtprojekt VDE 8, so wie vom damaligen Bundesverkehrsminister Günther Krause geplant, sollte das Mittelteil sein des Transeuropäischen Verkehrsnetzes der Eisenbahnachse von Skandinavien nach Italien. Mit dem Bundesschienenwegeausbaugesetz von 1993 wurde VDE 8 als vordringlicher Bedarf für den Gleisausbau eingestuft. Ein Jahr später wurde dem Korridor auf EU-Ebene die höchste Priorität im europäischen Bahnnetz zugesprochen. Alle VDE-Projekte sollten nach Krauses Vorstellungen bis zum Jahr 2000 fertiggestellt sein. Die ursprünglichen Kosten des Aus- und Neubaus der Strecke Nürnberg-Berlin (VDE 8) wurden auf 12,4 Mrd. D-Mark beziffert oder etwa 6,2 Mrd. Euro. Baustopp unter Rot-GrünGebaut wurde die Schnellstrecke in drei Abschnitten. VDE 8.3, die für ICEs aufgerüstete Verbindung zwischen Berlin und Leipzig/Halle, wurde mit der Inbetriebnahme des neuen Berliner Hauptbahnhofs 2006 fertig, womit Leipzig nur noch gut eine Stunde von Berlin entfernt ist. Die anschließende Neubaustrecke VDE 8.2 bis nach Erfurt wurde Ende 2015 unters Rad genommen, über die inzwischen ein großer Teil der Züge zwischen Frankfurt und Berlin rollt. VDE 8.1 schließlich, der bei weitem teuerste Teil, war jahrelang blockiert, weil der ersten rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder das Geld fehlte. Erst Jahre später hob die Koalition den Baustopp für die heiß umstrittene, weil teure Verbindung wieder auf. Allein der Neubau von Erfurt nach Ebensfeld, nördlich Bamberg, durch den Thüringer Wald kostet inklusive des Ausbaus der vorhandenen Verbindung nach Nürnberg weit mehr als 5 Mrd. Euro. Dafür ist diese Strecke – ähnlich ihrem Pendant 100 km westlich zwischen Kassel und Fulda – eine technische Meisterleistung mit 22 Tunneln (mit insgesamt 41 km Länge) und 29 Brücken (12 km), womit knapp die Hälfte der Verbindung unter der Erde oder über Täler verläuft.Für die Deutsche Bahn ist die Inbetriebnahme von VDE 8.1 “die größte Angebotsverbesserung seit 20 Jahren”, jubelt Konzernchef Richard Lutz, der sich damit erheblich mehr Reisende in den Zügen und mehr Einnahmen verspricht. Da zugleich auch die angrenzenden Regionalverkehre neu sortiert und beschleunigt werden sollen, profitieren nicht nur die Großstädter, sondern auch die Menschen in der Fläche. Nur im idyllischen Saaletal – und damit auch in Jena – wird es ruhiger. Hier ist man künftig vom ICE abgeschnitten.