Start-up-Serie

London liegt im Standort­wettbewerb vorn

Im europäischen Wettbewerb um vielversprechende Start-ups hat London bislang die Pole Position inne. Dort geht man davon aus, dass die eigentliche Konkurrenz in den USA und Asien sitzt.

London liegt im Standort­wettbewerb vorn

Von Andreas Hippin, London, und Gesche Wüpper, Paris

Sieht man sich die aktuellen Rennlisten im Standortwettbewerb um die heißesten Start-ups an, hat sich London in Europa die Pole Position gesichert. Das liegt auch daran, dass es an der Themse mehr als 300 aktive Risikokapitalgesellschaften gibt. „Großbritannien hat einen astronomischen Anstieg von Venture-Capital-Finanzierungen verzeichnet, insbesondere bei Finanzierungen in sehr späten Entwicklungsstadien“, sagt George Windsor, Head of Insight beim Verband Tech Nation. „Die Runden wurden von US-Investoren geführt, die hunderte Millionen beitrugen, sowie von Investoren aus Asien wie Temasek oder GIC.“ In Paris dagegen stammt der Großteil der im Zeitraum 2016 bis 2020 investierten 19 Mrd. Euro nach Angaben des Wirtschaftsministeriums vor allem bei Finanzierungen bis zu 50 Mill. Euro von französischen Investoren, bei größeren hauptsächlich von europäischen Geldgebern.

Im Ranking-Wettbewerb

Bei den Venture-Capital-Investments in Techfirmen befand sich die britische Metropole mit 10,6 Mrd. Dollar vergangenes Jahr weltweit auf Rang 4 – nach San Francisco, Peking und New York. Paris erreichte dagegen mit 3,3 Mrd. Dollar gerade einmal Platz 15, Berlin folgte mit 3 Mrd. auf Platz 16. Im „Global Start-up Ecosystem Ranking“ der Berater von Start-­up Genome teilen sich London und New York Platz 2. Die französische Hauptstadt findet sich auf Platz 12, Berlin auf Platz 22. Nachdem Paris Deutschland letztes Jahr laut dem Risikokapital-Barometer von EY überholt hat, ist Frankreich nun im ersten Halbjahr wieder zurückgefallen. Französische Start-ups haben sich in dieser Zeit laut der Beratungsgesellschaft EY Mittel in Höhe von 5,14 Mrd. Euro besorgt, deutsche 7,83 Mrd. Euro und britische 16,44 Mrd. Euro. Mit 18 Einhörnern, darunter Blablacar, Deezer, Doctolib und OVH Cloud im Juli lag Paris zwar gleichauf mit Berlin, jedoch deutlich hinter London mit seinen 31 Einhörnern.

Präsident Emmanuel Macron hat nun zur Aufholjagd geblasen und ein 30 Mrd. Euro schweres Investitionsprogramm vorgestellt, um Frankreich wieder zu einem großen Land der Innovationen zu machen. Im Jahr 2025 deutlich mehr als 25 französische Einhörner zu haben und Frankreich zur Start-up-Nation zu machen, lautet sein Ziel. Der für Digitalisierung zuständige Staatssekretär Cédric O hat deshalb 2019 den Index Next 40 lanciert, um erfolgversprechenden Technologiefirmen auf der internationalen Bühne mehr Sichtbarkeit zu verschaffen.

Dabei geholfen, Paris in den Fokus zu rücken, hat auch die im Osten der Metropole gelegene Station F, der 2017 eröffnete und nach eigenen An­gaben weltweit größte Campus für Start-ups. Hatte Paris als für Luxusgüterkonzerne bekannte Hauptstadt lange Zeit den Ruf, eine angestaubte Museumskulisse zu sein, herrscht an der Seine inzwischen Aufbruchstimmung. Bei jungen Hochschulabsolventen ist ein deutliches Umdenken zu spüren. Träumte noch vor zehn Jahren eine Mehrheit von einer Karriere im Staatsdienst, wollen inzwischen immer mehr ihre eigene Firma gründen.

Sie sei beeindruckt von diesem Wandel, sagt Fleur Pellerin, die unter Präsident François Hollande als Ministerin für Digitalisierung zuständig war und inzwischen an der Spitze des Investmentfonds Korelya Capital steht. „Ich habe in den 90ern eine Wirtschaftshochschule besucht. Die neue Generation hat einen Unternehmensgeist, den es damals nicht gab.“ Das sei sehr begrüßenswert, da sich die Einstellung gegenüber Risiken und Ambitionen verändert hätten. Es bedürfe jedoch eines ziemlichen Aufholprozesses, wenn man die Position gefährden wolle, die sich London in Europa und der Welt erarbeitet habe, meint Windsor vom Verband Tech Nation. „Es wird immer einen intensiven Wettbewerb um Individuen mit Unternehmergeist geben.“ In London sei doppelt so viel investiert worden wie in Paris und Berlin zusammen. „Ich glaube nicht, dass es sich um ein Nullsummenspiel handelt“, sagt er zum innereuropäischen Stand­ortwettbewerb. „Wir werden sehen, wie Städte, Hubs und Cluster über ganz Europa hinweg von der gleichen steigenden Flut angehoben werden. Der wirkliche Fokus sollte auf dem Wettbewerb mit den USA und Asien liegen.“

Auch in Europa könne es zu Bewertungen wie in der Bay Area kommen. Um mit den Giganten aus den Vereinigten Staaten und Fernost mit­halten zu können, brauche man Firmen, die mehr als 10 Mrd. auf die Waage brächten. Dieser Meinung ist auch Frankreichs Staatsoberhaupt. Macron hat deshalb das ehrgeizige Ziel vorgegeben, in Europa bis 2030 zehn mit 100 Mrd. Euro bewertete Technologie-Riesen zu schaffen. Die Weichen dafür will er stellen, wenn Frankreich Anfang 2022 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Ein europäisches Technologie-Visum ist eine seiner Ideen.

Trotz Brexit gefragt

Sieht man sich an, an welche Orten die europäischen und israelischen Einhörner ihren Sitz haben, zeigt sich, dass vor fünf Jahren noch alle in Großbritannien angesiedelt waren. Mittlerweile ergibt sich ein anderes Bild: Die Silicon Valley Bank hat ermittelt, dass 2021 jeweils 26% in Deutschland und Israel saßen, 17% in Großbritannien, 13% in Skandinavien und 17% in anderen Ländern. Das liegt allerdings eher an der wundersamen Geldvermehrung durch die Zentralbanken als an einer nachlassenden Attraktivität der britischen Metropole. Die Covid-Pandemie könnte die Landkarte nochmals verändern, denn in Frankreich sorgt sie dafür, dass immer mehr Berufstätige Paris den Rücken kehren und in Städte und Regionen mit höherer Lebensqualität ziehen.

Ob die Pariser Start-up-Szene dagegen wie der Bankensektor vom Brexit profitieren wird, ist dagegen noch unklar. „Trotz des Brexit-Votums haben die Investoren steigendes Interesse am Standort London“, sagt Miriam Ducke, Director of Europe bei London & Partners. „Die Vorteile Londons – große Diversität, Bildungsinfrastruktur, Offenheit für neue Technologien, Verfügbarkeit von Kapital und Kundschaft – be­stehen uneingeschränkt fort. Es gibt in London 484000 Software-Entwickler, die in London leben und arbeiten. Die sind durch den Brexit nicht plötzlich weg.“

Kein Passporting mehr

Alex McCracken, der als Managing Director bei der Silicon Valley Bank für die Beziehungen zu Venture-Capital-Fonds verantwortlich ist, glaubt, dass es zu einem „gesunden Wettbewerb“ zwischen den europäischen Einhorn-Standorten kommen wird. Großbritannien habe ein Visasystem, das es Tech-Unternehmern leichtmache, einzureisen, sich niederzulassen und loszulegen. Nun könnten Städte auf dem Kontinent wie Berlin, Paris oder Lissabon damit für sich werben, dass Großbritannien aus der EU ausgestiegen sei. Es lasse sich kein Passporting mehr betreiben wie bislang.

In London setzt man auf Segmente wie Deep Tech, auf forschungsintensive Firmen in Bereichen wie Künstliche Intelligenz und maschinellem Lernen, oft in Verbindung mit erweiterter oder virtueller Realität und anderen Technologien. Es gehe um fundamental neue Technologien, sagt Windsor. Letztes seien 17% mehr in Deep-Tech-Firmen investiert worden, mehr als in jedem anderen Land.

Doch auch die französischen Deep Techs sorgen für Interesse. So ist In-Q-Tel, der Fonds der CIA, gerade ins Kapital von Prophesee eingestiegen, einem Unternehmen, das eine künstliche Netzhaut entwickelt hat. Zu den anderen Schwerpunkten französischer Start-ups gehören die Bereiche Gesundheit, Nahrungsmittel und Cybersicherheit.

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