Medizintechnik wird attraktiver für Investoren
Investments in die Gesundheitsbranche stehen seit Corona hoch im Kurs. In Deutschland waren zuletzt Zielgesellschaften aus der Medizintechnikbranche besonders attraktiv – nicht nur bei Strategen, sondern auch bei Private-Equity-Investoren. Die Probleme bei der Umsetzung der EU-Verordnung über Medizinprodukte (Medical Device Regulation – MDR) haben die Branche in Aufruhr versetzt. Dies hat auch Einfluss auf den Markt für Unternehmenskäufe und -verkäufe.
Im vergangenen Dezember nun tagte der Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz der EU-Gesundheitsministerinnen und EU-Gesundheitsminister (Employment, Social Policy, Health and Consumer Affairs Council – EPSCO. In der Folge wurden von der Europäischen Kommission Änderungen der MDR angekündigt. Diese zielen vor allem auf eine zeitliche Entspannung bei der Rezertifizierung ab und sollen dadurch langfristig die Versorgung mit Medizinprodukten sicherstellen. Die neuen Fristen machen Investments in die Branche deutlich attraktiver.
Knackpunkt Zertifizierung
Bei rechtlichen Unternehmensprüfungen von Zielgesellschaften der Medizintechnikbranche muss insbesondere der rechtliche Rahmen der hergestellten und vertriebenen Produkte unter die Lupe genommen werden. Für einen Kaufinteressenten ist entscheidend, ob Produkte als Medizinprodukte zertifiziert sind, eine CE-Kennzeichnung aufweisen, das einschlägige Konformitätsbewertungsverfahren durchlaufen haben und die Zertifizierung auch nach Vollzug der Transaktion gültig bleibt.
Für die Zertifizierung hat die Ende Mai 2021 in Kraft getretene MDR zu gravierenden Verschärfungen geführt. Für eine noch höhere Sicherheit und Qualität von Medizinprodukten wurde das Klassifizierungssystem geändert. Dieses orientiert sich an der Verletzlichkeit des menschlichen Körpers und dem Risikopotenzial des jeweiligen Medizinprodukts. Das Risiko steigt von Klasse I (geringes oder kein Risiko) über die Klassen IIa und IIb (mittleres bis hohes Risiko) bis zur Klasse III (sehr hohes Risiko) schrittweise an.
Betroffen sind nahezu alle Unternehmen der Branche. Bisherige Zertifizierungen sind – bis dato – nur noch bis Mai 2024 gültig. Für einen potenziellen Käufer ist es naturgemäß essenziell, dass die Produkte des jeweiligen Unternehmens auch nach diesem Zeitpunkt die gesteigerten Anforderungen nach der MDR einhalten können und die Rezertifizierung erlangt haben bzw. fristgemäß erlangen können.
Schon länger ist von strukturellen Problemen bei der Umsetzung der MDR und einem „Zertifizierungsstau“ zu hören. Laut dem deutschen Bundesverband der Medizintechnologie (BVMed) haben aktuell lediglich 2000 der 25000 in Europa verwendeten Bestandsmedizinprodukte die Rezertifizierung nach der MDR erlangt.
Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zum einen wird das neue Verfahren als zu aufwendig und kostspielig angesehen. Eine Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages und des Industrieverbandes Spectaris nährt die Befürchtung, dass Medizinproduktehersteller mindestens die Hälfte ihrer Produkte vom Markt nehmen könnten. Zum anderen dauert das Rezertifizierungsverfahren sehr lange: In 82% der Fälle beträgt der Zeitraum zwischen 13 und 18 Monate, in 18% der Fälle sogar 19 bis 24 Monate, so der BVMed. Die Rezertifizierungsdauer lag bei keinem einzigen Verfahren unter einem Jahr.
Seit Monaten weisen Branchenvertreter und Politiker – vor allem die beiden stärksten Medizintechnikstandorte Baden-Württemberg und Bayern – mit Initiativen, Erhebungen, einem Brandbrief an die Europäische Kommission und einer Entschließung des Bundesrates darauf hin, dass die fehlenden Rezertifizierungen spätestens ab Mai 2024 zu erheblichen Engpässen in der Versorgung führen werden.
Verschärft wird die Versorgungslage zusätzlich dadurch, dass es eine festgesetzte Abverkaufsfrist bis Mai 2025 für bereits im Markt befindliche Medizinprodukte gibt. Es steht die Existenz vieler Unternehmen und die Wettbewerbsfähigkeit der gesamten europäischen Medizinproduktebranche auf dem Spiel.
Aufhorchen lässt in diesem Zusammenhang der jüngste Vorstoß des Schweizer Parlaments. Dieses forderte den Bundesrat dazu auf, auch Zertifikate der US-Zulassungsbehörde Food and Drug Administration (FDA) anzuerkennen.
Problem erkannt
Die Notwendigkeit, die MDR nachzujustieren, wurde nun erkannt, wie die EPSCO-Sitzung vom 9. Dezember 2022 zeigt. Die Gesundheitsministerien der europäischen Mitgliedstaaten haben sich mehrheitlich für eine Verlängerung der Übergangsfrist ausgesprochen, gestaffelt nach Risikoklassen bis 2027 (Klassen IIb und III) bzw. 2028 (Klassen I und IIa). Daneben soll die bis Mai 2025 festgesetzte Abverkaufsfrist aufgehoben werden, um zu verhindern, dass bereits auf dem Markt befindliche sichere Medizinprodukte ausrangiert werden müssen. EU-Kommissarin Stella Kyriakides kündigte am 9. Dezember an, entsprechende Änderungen der MDR Anfang des Jahres 2023 vorlegen zu wollen. Diese werden zumindest einen Teil des Problems adressieren und Zeit schaffen. Ob die Europäische Kommission auch auf die weiterreichenden Forderungen der Branche wie beispielsweise Ausnahmeregelungen für Nischenprodukte eingehen wird, bleibt abzuwarten.
Bislang ging man davon aus, dass viele Unternehmen ihre durch die neuen MDR-Vorgaben unattraktiv gewordenen Unternehmensteile abstoßen werden. Hierauf dürften die nun zu erwartenden Änderungen der MDR grundsätzlich kaum Einfluss nehmen, wenngleich der Verkaufsdruck vorerst nicht mehr ganz so hoch ist.
Was Investitionen in zertifizierte Medizinprodukte angeht, dürfte der Vorstoß wieder zu einem erhöhten Interesse von Investoren an solchen Zielgesellschaften führen, insbesondere dann, wenn diese eine Rezertifizierung ihrer Produkte anstreben und sich nicht mehr sorgen müssen, ob sie diese rechtzeitig erlangen. Auch Unternehmen, die bis dato keine Rezertifizierung angestoßen haben, könnten aufgrund der Fristverlängerungen in den Fokus von Investoren geraten.
Im Rahmen der Unternehmensprüfung sollte ein besonderes Augenmerk auf bestehende Zertifizierungen und etwaige Rezertifizierungsprozesse gelegt werden. Außerdem sollte geprüft werden, inwieweit bestehende Prozesse zu Entwicklung, Produktion, Qualitätssicherung, Überwachung und Vertrieb beibehalten werden können oder an die – auch hier – gestiegenen Anforderungen der MDR angepasst werden müssen.
Bei der Strukturierung einer M&A-Transaktion sollten weitere Implikationen wie beispielsweise eine erforderliche Neuzertifizierung von Produkten bedacht werden.