Russisches Gas ist kaum verzichtbar
cru Frankfurt
Ein vollständiger Ausfall der russischen Ostseepipeline Nord Stream 1 sowie der beiden Routen durch die Ukraine und Belarus mit addiert 120 Mrd. Kubikmeter Liefervolumen vom zweiten Quartal 2022 bis zum ersten Quartal 2023 könnte nicht durch zusätzliche Gasproduktion in Europa oder andere Pipelines und Importe von Flüssiggas (LNG) ersetzt werden. „Europa könnte seine Speicher nicht ausreichend befüllen“, warnte der Ex-Ruhrgas-Manager und VNG-Aufsichtsrat Jochen Weise, der unter anderem Allianz Capital Partners in Energiefragen berät, bei einem Webinar der Kanzlei Rosin Büdenbender. „Im Winter 2022/23 müssten Industrie und Kraftwerke, die für 40 % der Winternachfrage stehen, vor allem in Nordwest- und Mitteleuropa abgeschaltet werden.“ Die Gaspreise würden nicht nur in Europa mit derzeit mehr als 200 Euro pro Megawattstunde, sondern weltweit für alle Importländer stark ansteigen.
Zur Reduzierung der Gasnachfrage und damit des Preisdrucks in Deutschland komme die Substitution von Erdgas im Kraftwerkssektor, der 2021 rund 9 Mrd. Kubikmeter verbrauchte, durch Kohle und Kernkraft – für etwa fünf Jahre – in Betracht. Strategische Gasreserven sind nach Einschätzung von Weise in Europa im Sommer 2022 aufzubauen. Entsprechende Gesetzesvorhaben bereiten die Europäische Kommission und die Bundesregierung vor – darunter das „Gesetz zur Nationalen Gasreserve“. Wegen der hohen Kosten für die Gasbeschaffung werden Energieversorger voraussichtlich staatliche Unterstützung benötigen – zunächst vor allem Bürgschaften für Margin Calls, wie sie der Braunkohlekonzern Leag, der Gasimporteur Uniper und der Gasnetzbetreiber VNG bereits jeweils im Milliardenwert von der Staatsbank KfW erhalten haben.
Eine solche Unterstützung würde laut Weise insbesondere für systemkritische Versorger notwendig, sollten russische Lieferungen in erheblichem Umfang unterbrochen werden. Zur Sicherung der mittelfristigen Energieversorgung sollten „Denkverbote“ aufgehoben werden: Möglich wären dann eine deutsche Erdgasförderung in der Nordsee sowie Fracking und neue LNG-Terminals, also Anlandestationen zur Regasifizierung von per Tanker angeliefertem Flüssiggas. Hinzukommen müssten Gasimporte aus dem östlichen Mittelmeer, wo Reserven von 3400 Mrd. Kubikmetern schlummern, sowie die Abscheidung, Nutzung und Speicherung von Kohlendioxid in Deutschland auch für Kohlekraftwerke, wenn Erdgas nicht zur Verfügung steht.
Öl-Sanktionen des Westens oder das Zudrehen des Ölhahns durch den Kreml selbst würden Russland nach Einschätzung von Weise viel stärker treffen als Gas-Sanktionen. Nach Angaben der Moskauer Zentralbank beliefen sich die Einnahmen des russischen Staates aus Ölexporten (Rohöl und Produkte) im Jahr 2021 auf 179 Mrd. Dollar (74 %). Auf Erdgas einschließlich LNG entfielen lediglich 62 Mrd. Dollar (26 %). „Zwar bezieht Deutschland 34 % und die EU 25 % des Rohöls aus Russland, aber Öllieferungen lassen sich eher ersetzen, da es mehr Quellen und Transportmöglichkeiten gibt“, konstatiert Weise. Auch dies löse erheblichen Preisdruck aus und könne zu Vergeltungsmaßnahmen bei Gas führen.
Bisher galt für Europas Gasversorgungsmix: Russland und LNG-Lieferungen ersetzen den Rückgang der heimischen Produktion, während Norwegen unveränderte Mengen liefert. Einschließlich LNG-Lieferungen deckt Russland 36 % des europäischen Gasbedarfes. Deutschland ist für Russland der wichtigste Abnehmer und das wichtigste Transitland für Gas. Die Pipelines durch die Ukraine dienen vor allem der Versorgung von Italien. Im Jahr 2021 lieferte Russland 168 Mrd. Kubikmeter Pipelinegas nach Europa – davon 58 Mrd. Kubikmeter via Nord Stream 1 (35 %) sowie 26,5 Mrd. Kubikmeter via Jamal Europa (16 %), 37,5 Mrd. Kubikmeter via Ukraine (22 %) und 26,5 Mrd. Kubikmeter (16 %) via Turkish Stream und Blue Stream. Darüber hinaus exportierte Russland im Jahr 2021 rund 19 Mrd. Kubikmeter LNG nach Europa – das entspricht 4 % des europäischen Bedarfes. Trotz deutlicher Steigerung bei LNG bleiben Pipelineimporte also dominant.