Viel Lärm um nicht viel
Gastbeitrag
Viel Lärm um nicht viel
Von Christoph H. Seibt
Das von der CDU/CSU/SPD-Koalition in den Jahren von 2018 bis 2021 getragene und ab 1. Januar 2023 geltende Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) ist in jüngerer Zeit unter Hinweis auf Bürokratiekosten und Wettbewerbsnachteile gegenüber Auslandsunternehmen stark kritisiert worden. Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz ist nichtsdestotrotz Blaupause für die Ende Juli 2024 in Kraft getretene EU-Lieferkettenrichtlinie (CSDDD) geworden.
Keineswegs Geschichte
Nun hält der neue Koalitionsvertrag zum zukünftigen Schicksal des LkSG in vier Sätzen fest: „Darüber hinaus schaffen wir das nationale Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz ab. Es wird ersetzt durch ein Gesetz über die internationale Unternehmensverantwortung, das die Europäische Lieferkettenrichtlinie bürokratiearm und vollzugsfreundlich umsetzt. Die Berichtspflicht wird unmittelbar abgeschafft und entfällt komplett. Die geltenden gesetzlichen Sorgfaltspflichten werden bis zum Inkrafttreten des neuen Gesetzes, mit Ausnahme von massiven Menschenrechtsverletzungen, nicht sanktioniert.“
Ministerpräsident Markus Söder hat das in der Pressekonferenz zur Vorstellung des Koalitionsvertrags knapp kommentiert: „Und ja, das Lieferkettengesetz wird Geschichte“. Die genaue Analyse des Koalitionsvertrags zeigt indes, dass das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz für geraume Zeit keineswegs Geschichte sein wird, und deutsche Unternehmen die dort geregelten Sorgfaltspflichten so lange befolgen müssen, bis sie durch inhaltlich vergleichbare Regelungen im CSDDD-Umsetzungsgesetz ersetzt werden.
Im Einzelnen: Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz soll kurzfristig insoweit geändert werden, dass die Berichtspflicht über die Einhaltung der Sorgfaltspflichten nach außen (§ 10 Abs. 2 bis 4, § 12 LkSG) entfällt. Ab dem Jahr 2028 (für das Geschäftsjahr 2027) wird diese Berichtspflicht von der Nachhaltigkeitsberichterstattung nach der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) konsumiert. Nach dem Koalitionsvertragstext bleibt die interne Dokumentationspflicht (§ 10 Abs. 1 LkSG) unverändert bestehen.
Dokumentation angeraten
Auch unabhängig vom Schicksal dieser Vorschrift werden die Geschäftsleiter bereits aus Eigeninteresse die Erfüllung der LkSG-Sorgfaltspflichten dokumentieren wollen, um ihrer Darlegungs- und Beweislast für die Pflichtenerfüllung zu genügen (vgl. § 93 Abs. 2 Satz 2 Aktiengesetz).
Die übrigen LkSG-Sorgfaltspflichten sollen bis zum Inkrafttreten des CSDDD-Umsetzungsgesetzes (nach den neuen „Omnibus“-Regelungen: bis zum 26. Juli 2027) fortgelten. Also werden unverändert weitergelten die Pflichten (i) zur Einrichtung eines Risikomanagements, (ii) zur Festlegung einer betriebsinternen Zuständigkeit (sog. Menschenrechtsbeauftragte oder entsprechende Komitees), (iii) zur Durchführung regelmäßiger Risikoanalysen, (iv) zur Abgabe einer Grundsatzerklärung, (v) zur Verankerung von Präventionsmaßnahmen und (vi) zum Ergreifen von Abhilfemaßnahmen sowie (vii) zur Einrichtung eines Beschwerdeverfahrens.
Keine Sanktionen
Allerdings sollen diese Pflichten nicht mehr sanktioniert werden, das heißt es sollen keine Bußgelder (§ 24 LkSG) mehr verhängt und weder ein Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge (§ 22 LkSG) noch eine Eintragung im Wettbewerbsregister erfolgen. Diese Sanktionsfreistellung betont im Umkehrschluss, dass die Sorgfaltspflichten weitergelten; dementsprechend verweist der Koalitionsvertragstext auch auf die „geltenden“ Sorgfaltspflichten.
Diese auf den ersten Blick umständliche Konstruktion der Pflichtenweitergeltung bei gleichzeitiger Sanktionsfreistellung könnte seine Ursache in dem Streit haben, ob der deutsche Gesetzgeber nach Inkrafttreten des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes wegen des bereits geltenden Art. 1 Abs. 2 CSDDD („Diese Richtlinie darf nicht als Rechtfertigung für eine Senkung des in den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten vorgesehenen Niveaus des Schutzes der Menschenrechte dienen“) überhaupt die LkSG-Sorgfaltspflichten noch autonom aufheben kann. Die LkSG-Sanktionsregelungen werden dann später durch die vergleichbaren CSDDD-Regelungen ersetzt.
Ausnahmsweise sollen die LkSG-Sanktionsfolgen in Fällen „massiver Menschenrechtsverletzungen“ weiter Anwendung finden. Zur Konturierung dieses neuen, dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz bislang fremden Rechtsbegriffs gibt es weder im Koalitionsvertrag noch in Begleitdokumenten Hinweise. Nach dem Wortlaut scheint klar zu sein, dass Verstöße gegen umweltbezogene Sorgfaltspflichten nunmehr in keiner Weise sanktioniert werden sollen.
Punktuelle Änderungen
Entsprechend zur Risikopriorisierung nach § 3 Abs. 2 LkSG wird zur Bewertung der „Massivität“ auf Grad, Anzahl der Betroffenen und Unumkehrbarkeit der Verletzung abzustellen sein. Hierzu müssen jedenfalls auf Verwaltungsebene trennscharfe und ermessenbegrenzende Fallgruppen geregelt werden, um Rechtssicherheit für Unternehmen bei der Frage zu erreichen, in welchen Fällen das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) noch sanktionsvorbereitende Ermittlungen durchführen und Sanktionen erlassen darf.
Alles in allem zeigt sich: Es sind nur punktuelle Gesetzesänderungen am LkSG vor Inkrafttreten des CSDDD-Umsetzungsgesetzes zu erwarten. Die weitreichenden LkSG-Sorgfaltspflichten werden bis zur Ablösung durch die inhaltlich vergleichbaren CSDDD-Sorgfaltspflichten fortgelten, in dieser Interimszeit allerdings im Regelfall ohne Behördensanktionen.
Geschäftsleitungen in der Pflicht
Die Geschäftsleitungen haben nach der gesellschaftsrechtlichen Legalitätspflicht diese weiter zu befolgen und entsprechende organisatorische Verhältnisse im Unternehmen, also insbesondere die personelle und sachliche Ausstattung, die für eine Pflichtenerfüllung erforderlich ist, aufrechtzuerhalten.
Pflichtverletzungen können im Regelfall zwar nicht mehr durch die BAFA sanktioniert werden, aber unternehmensintern durch die zuständigen Organe. Zudem können Pflichtverletzungen auch zu Reputationsschäden beim Unternehmen, zum Beispiel durch Ausstieg von Investoren und anderen Finanzpartnern sowie von Geschäftspartnern in der Lieferkette, also Lieferanten und Kunden, führen.
Die Umsetzung des Koalitionsvertrags wird also aller Voraussicht nach die erhebliche Bedeutung des Lieferkettenrechts für die Geschäftsmodelle, die Ausrichtung der Geschäftsleitung, der Konzernorganisation und der Compliance- bzw. Risikomanagementstrukturen im Wesentlichen unangetastet lassen.
Prof. Dr. Christoph H. Seibt ist Partner von Freshfields und Honorarprofessor an der Bucerius Law School.