Forschung und Entwicklung

Wo für Bayer die Zukunfts­musik spielt

Boston bringt alles mit, was Wissenschaftlerherzen höher schlagen lässt: Talente, Labore und nicht zuletzt eine Regulierung, die Chancen Vorrang vor Risikominimierung gibt. Das macht sich Bayer zunutze.

Wo für Bayer die Zukunfts­musik spielt

Von Annette Becker, zzt. Boston

Es sind beeindruckende Zahlen, die das wissenschaftliche Ökosystem Boston vorzuweisen hat: In Boston und Cambridge sind 1000 Biotechnologieunternehmen beheimatet, allein am Kendall Square in direkter Nachbarschaft zum Campus des Massachusetts Institute of Technology (MIT) werden mehr als 100 Biotech-Unternehmen gezählt. Mit ihnen kamen Dutzende Wagniskapitalgeber und natürlich auch Big Pharma auf der Suche nach Talenten, neuen Technologien und Behandlungsmethoden für die großen medizinischen Herausforderungen unserer Zeit.

Seit diesem Sommer ist auch Bayer mit einer eigenen Forschungseinrichtung, dem Bayer Research and Innovation Center (BRIC), am Kendall Square vertreten. 140 Mill. Dollar hat der deutsche Life-Science-Konzern in das Forschungszentrum für molekulare Präzisionsonkologie investiert, allen voran in die Laborausrüstung.

„Die Grundlagen sind gelegt. Jetzt sind wir an dem Punkt, wo die Onkologieforschung die kritische Masse erreichen muss“, sagt Christine Roth, die im Pharmaceuticals Executive Committee von Bayer die strategische Geschäftseinheit Onkologie leitet. Sie ist seit Anfang des Jahres an Bord. Zuvor arbeitete sie für GSK, Novartis und Bristol-Myers Squibb. Was sie zum Wechsel zu Bayer bewogen hat? Die Aufbruchstimmung, die das BRIC verheißt, und die Vision, in ferner Zukunft Krebserkrankungen mit Zell- und Gentherapien womöglich heilen zu können. Natürlich geht es auch um monetäre Aspekte. Der Wettbewerb um die besten Talente ist in vollem Gange.

Bayers Ziele sind ambitioniert: Bis 2030 wollen die Leverkusener in die Top 10 der Onkologieunternehmen weltweit vorstoßen. Aktuell rangiert Bayer irgendwo zwischen Rang 15 und 17. Die Krebsforschung ist ein lukratives Betätigungsfeld für die Pharmaindustrie, zumal es sich um ein echtes Wachstumsfeld – und das soll keineswegs zynisch klingen – handelt. „Es wird geschätzt, dass die Zahl der Krebspatienten in den nächsten zehn Jahren um ein Viertel wächst“, sagt Dominik Rüttinger, der seit Oktober 2021 die Forschung und Frühe Entwicklung Onkologie für Bayer leitet.

Aktuell arbeiten im BRIC 100 Wissenschaftler, 50 weitere sollen in den nächsten Monaten dazukommen. Im selben Gebäude wie das BRIC ist auch Bluerock Therapeutics untergebracht, die sich auf Zelltherapien spezialisiert hat und 2019 vollständig von Bayer übernommen wurde. Die Technologie von Bluerock zielt darauf ab, die Gewebefunktion bei Krankheiten mit erheblichem Zellverlust wie beispielsweise Parkinson wiederherzustellen. Derzeit läuft eine Studie der klinischen Phase I, an der zwölf Patienten teilnehmen. Ihnen wird lebendes Zellmaterial ins Gehirn injiziert – ein irreversibler Eingriff. Aus diesem Grund nehmen an der Studie, in der es allen voran um die Sicherheit und Verträglichkeit der neuen Behandlungsmethode geht, nur an Parkinson erkrankte Menschen teil, bei denen sich die Krankheit im Endstadium befindet.

Regulatorischer Vorteil

Für Bayer-Chef Werner Baumann ist es aber nicht nur das einzigartige Ökosystem in Boston mit seinen zahllosen Forschungseinrichtungen, das magnetische Anziehungskraft auf die forschende Pharmaindustrie in aller Welt ausübt. Hinzu komme das chancenbegleitende­ regulatorische Umfeld. „In Europa gebe es demgegenüber einen risikovermeidenden Bias in der Regulierung“, sagt Baumann.

Bluerock Therapeutics ist aber auch in anderer Hinsicht beispielgebend für den neuen Forschungsansatz von Bayer. Zum einen, weil Bayer das Biotech-Unternehmen nicht integriert, sondern mit Bluerock und anderen internen und externen Partnern auf Armeslänge kooperiert. Zum anderen, weil Bayer, genauer der Venture-Capital-Arm Leaps by Bayer, Bluerock Therapeutics zusammen mit einem Venture-Capital-Geber gegründet hat und erst später vollständig übernahm.

Leaps by Bayer stellt seit 2015 Frühphasenfinanzierungen in den Be­reichen Gesundheit und Landwirtschaft bereit. Bislang wurden 1,5 Mrd. Dollar in mehr als 50 Start-up-Unternehmen investiert. Nun soll der Risikokapitalgeber Fahrt aufnehmen, bis 2024 sollen weitere 1,3 Mrd. Euro in neue Technologien und disruptive Geschäftsmodelle investiert werden.

Die Venture-Capital-Aktivitäten folgen der Erkenntnis, dass zwei Drittel aller Medikamente von kleinen, innovativen Firmen entwickelt werden, wie Jürgen Eckhardt, der die Einheit leitet, erläutert. Im Unterschied zu klassischen VC-Gebern versteht sich Leaps by Bayer als strategischer Investor, der auch dazu dient, das Bayer-Portfolio zu erneuern.

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