„Es ist unerlässlich, dass der Kapitalmarkt gestärkt wird“
Christopher Kalbhenn.
Herr Weimer, wir erleben derzeit in vielerlei Hinsicht einschneidende Veränderungen, etwa durch den Klimawandel, die Digitalisierung und den demografischen Wandel. Welche Rolle spielt angesichts dieser Herausforderungen der Kapitalmarkt?
Diese Aufgaben sind in der Tat gewaltig. Ohne den Kapitalmarkt werden wir sie nicht bewältigen können. Der zukünftige Wohlstand unserer Volkswirtschaft hängt an funktionierenden Kapitalmärkten – sie sind das Rückgrat der Realwirtschaft, die ja nur in Deutschland so genannt wird. An dieser Unterscheidung in Finanz- und Realwirtschaft zeigt sich übrigens schon das schwierige Verhältnis der Deutschen zum Kapitalmarkt. Denn der Beitrag der Akteure des Kapitalmarktes ist sehr real. Es gibt ja aus verschiedenen Quellen Berechnungen zum Finanzbedarf für den Umbau der deutschen und europäischen Wirtschaft. Das sind gewaltige Summen, die weder die öffentliche Hand allein noch der Bankenmarkt finanzieren können. Es ist unerlässlich, dass der Kapitalmarkt gestärkt wird. Ohne ihn wird es nicht gehen. Nehmen Sie das Beispiel der Bewältigung des demografischen Wandels. Stellen wir in Deutschland die Altersvorsorge nicht auf andere Füße, dann werden perspektivisch im Jahr 2060 60% des Bundeshaushalts für die Rentenversicherung bereitgestellt werden müssen. Das ist natürlich nicht darstellbar.
In welchem Zustand befindet sich der deutsche Kapitalmarkt?
Zunächst einmal gehört er zum europäischen Kapitalmarkt und hat deshalb einen entscheidenden Nachteil: Er ist Teil eines zersplitterten Marktes, der einem sehr großen und einheitlichen amerikanischen Kapitalmarkt gegenübersteht. Wir haben in Europa 650 Handelsplätze. Diese Zahl ist in den USA mit 300 nicht einmal halb so groß. Hinzu kommt, dass der Kapitalmarkt in Deutschland ein Image- und Akzeptanzproblem hat. Der deutsche Kapitalmarkt hängt in fast jeder Dimension hinterher. Wir haben zu wenig gelistete Firmen – wir hatten mal über 700, haben noch 460. Nur noch zwei Unternehmen der Top 100 weltweit kommen aus dem Dax. Keine deutsche Bank ist mehr unter den Top 50 der Welt. Die Kapitalmarkttiefe – also das Verhältnis von Kapitalmarktvolumen zu Bruttosozialprodukt – liegt nur bei 117%. In Frankreich liegt diese Zahl bei 450%. Die Marktkapitalisierung aller gelisteten Unternehmen in Deutschland liegt selbst bei boomenden Aktienmärkten gerade mal bei 171% des Bruttosozialproduktes. Die USA und UK liegen bei etwa 350%. Wir krebsen rum auf dem Niveau von Brasilien. Wobei ich nichts Schlechtes über Brasiliens Kapitalmarkt sagen möchte. Wir freuen uns doch schon, wenn wir bei 17,5% Aktienquote liegen und dass diese leicht ansteigt.
Was sollte die Politik tun, welche Verbesserungen könnten relativ zeitnah umgesetzt werden?
Es braucht ein klares Bekenntnis aller Beteiligten zum Kapitalmarkt. Der Kapitalmarkt muss entdämonisiert werden. Denn nur wenn dieser in Europa gut funktioniert, kann er der Transmissionsriemen für das Wachstum der Realwirtschaft sein. Zudem wird es höchste Zeit, dass die Arbeit an der Kapitalmarktunion zu konkreten Ergebnissen führt. Der Kapitalmarkt muss für alle geöffnet werden. Zugang zu den Möglichkeiten des Kapitalmarktes heißt Zugang zu Teilhabe an Wachstum und Wohlstand. Die Aufgaben sind vielfältig. Da könnte ich jetzt viele nennen, zum Beispiel den Rahmen für eine fundamentale Rentenreform oder die Verbesserung der Finanzierungsmöglichkeiten für Later Stage Investments. Für all das braucht es aber die Überzeugung: Der Kapitalmarkt ist wichtig. Dann wird für Marktstrukturen im besten Fall ebenso gekämpft werden, wie man das vom Kampf für Unternehmen der sogenannten Realwirtschaft kennt.
Ist die angedachte Aktienrente sinnvoll?
Grundsätzlich geht es darum, möglichst viele Menschen am Produktivkapital zu beteiligen. Wie das genau ausgestaltet ist, darüber wird man diskutieren können. Soll der Staat einen eigenen Fonds aufbauen nach schwedischem oder norwegischem Modell? Oder soll man staatliche Anreize geben, damit die Menschen selber investieren? Der Grundsatz muss aber sein: Wir brauchen ein Instrument, das einfach und verständlich ist, eine ordentliche Partizipation am Produktivvermögen bietet – und gegen allzu heftige Volatilitätsschwankungen gefeit ist. Aber was das angeht, sehen Sie mich positiv gestimmt. Ich lese den Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung so, dass dieses Thema endlich angegangen wird. Die neue Bundesregierung kann bei der Umsetzung dieses Vorhabens Geschichte schreiben. Als Deutsche Börse stehen wir für jedes Gespräch und jede Unterstützung des Prozesses bereit.
Welche regulatorischen Baustellen sollten aus Sicht der Deutschen Börse mit Priorität angegangen werden?
Ganz einfach: Gebraucht wird auf allen Feldern ein Level Playing Field. Gleiche Bedingungen für alle Akteure. Es ist bekannt, dass wir als Deutsche Börse OTC-Märkten gegenüber kritisch sind. Unsere klare Haltung ist: Kapitalmärkte leben von Vertrauen. Vertrauen braucht Transparenz. Das ist im börslichen Handel gegeben – weniger im außerbörslichen. Sehen Sie sich nur den Devisenmarkt an: 90% des Handels dort laufen nicht über elektronische Systeme. Zugespitzt könnte man sagen: Das ist Steinzeit. Ein weiteres wichtiges Thema ist das Euro-Clearing. Ich gebe gerne offen zu, dass wir als Unternehmen von einer Verlagerung des Euro-Clearing, weg aus London, profitieren würden. Aber unabhängig davon: Unter dem Gesichtspunkt der Risikominimierung kann die Europäische Union doch nicht zulassen, dass dieser essenzielle Teil des Kapitalmarktes außerhalb der EU-27 verarbeitet wird.
Seit Ihrem Amtsantritt Anfang 2018 ist die Aktie der Deutschen Börse um mehr als 50% gestiegen, die Marktkapitalisierung liegt bei rund 29 Mrd. Euro. Wie ist die Deutsche Börse im Vergleich zu den Peers aufgestellt?
Die Deutsche Börse ist sehr gut aufgestellt. Wir decken die gesamte Wertschöpfungskette über unser Analytics-Geschäft, unser Trading, das Fondsservice- und das Settlement-Geschäft ab. In dieser Breite ist die Deutsche Börse in der internationalen Landschaft einzigartig und auch besonders robust aufgestellt. Was die Umsatzverteilung angeht, sind wir ausbalanciert. Seit einiger Zeit investieren wir – neben dem prominent aufgegriffenen ESG-Geschäft – verstärkt in das Investmentfondservicegeschäft. Dieses ist aktuell mit organischen Wachstumsraten von etwa 25% der Star in unserem Portfolio. Diese Investments zahlen auf die Strategie ein, unsere Umsätze in Richtung wiederkehrende Umsätze zu entwickeln. Das goutieren unsere Investoren. Inzwischen sind wir bei den wiederkehrenden Umsätzen bei knapp 55%. Wir wachsen zudem mit 10% im Jahr in Umsatz und im Gewinn. Das muss uns erst einmal jemand nachmachen. Unsere Marktkapitalisierung ist gut.
Wie wichtig ist die Blockchain- beziehungsweise Distributed-Ledger-Technologie für Sie? Wie wird sie sich auf Ihr Geschäft beziehungsweise die Börsenbranche insgesamt auswirken?
Sehr wichtig. Die Blockchain stellt eine Herausforderung, aber auch eine Chance für unser Geschäft dar. Zum einen werden wir als Intermediär in Frage gestellt, zum anderen hören wir täglich, dass man uns als Trusted Party aktiv sucht. DLT, Blockchain und auch die Cloud treiben die Digitalisierung von Finanzprodukten und ermöglichen eine höhere Prozesseffizienz. Das genau ist unser Ziel: Wir wollen effiziente und zukunftsorientierte Märkte aktiv gestalten. Dafür müssen wir bei neuen Technologien immer mit dabei sein. Wir müssen die Technologien, die uns herausfordern, inkorporieren. Nehmen Sie unsere neue Plattform D7, die wir gemeinsam mit Partnern gebaut haben. Sie ermöglicht die durchgehende Verarbeitung elektronischer Wertpapiere, die alle für den Lebenszyklus relevanten Informationen digital inkludiert haben. Über 80% der deutschen Wertpapiere werden wir bis Mitte 2022 in einem zentralen Register digitalisieren. Das ebnet den Weg für die papierlose voll automatisierte und übrigens auch taggleiche Emission. Das ist echter Kundennutzen. Das elektronische Wertpapiergesetz hat dafür die Voraussetzungen geschaffen. Ich sagte, dass wir das gemeinsam mit Partnern gemacht haben. Partnering ist bei diesen disruptiven Themen unerlässlich und ein guter Weg zum Erfolg. Ein weiteres Beispiel im Bereich DLT ist das „Blockbaster“-Projekt gemeinsam mit der Bundesbank. Wir haben dort gemeinsam erfolgreich Use Cases zu Blockchain-basierter Abwicklungstechnologie durchgeführt. Wie gesagt: Man muss am Anfang mit dabei sein. Die Zukunft ist digital oder gar nicht. Das gilt auch für die Börsen.
Kryptowährungen erleben einen Boom. Wie geht die Deutsche Börse mit dem Thema um?
Krypto ist gekommen, um zu bleiben. Wer glaubt, dass Krypto als Assetklasse wieder geht, ist aus meiner Sicht ein Träumer. Wir werden zum einen eine Regulierung der Krypto-Assetklassen sehen. Zum anderen steht die Entwicklung von Krypto-Assetklassen erst am Anfang. Die Deutsche Börse ist an mehreren Stellen aktiv. Wir haben im Juni 2020 als erste Börse weltweit damit begonnen, zentral geclearte Krypto-Assets anzubieten. Wir sind Marktführer im Handel mit Krypto-ETNs in Europa, und wir haben im September bei der Eurex ETN-Futures ins Angebot aufgenommen. Der Markt will es. Da schafft sich die Nachfrage am Ende des Tages das Angebot. Gleichzeitig schafft unser Angebot aber auch wieder Nachfrage. Darüber hinaus haben wir in der Schweiz den Krypto-Asset-Broker Crypto Finance AG gekauft. Wir sind damit der Intermediär für die institutionellen Anleger. Ich bin überzeugt: Wir werden die heutige Breite im klassischen Wertpapiergeschäft in Zukunft auch bei den Krypto-Assetklassen sehen.
Im Rahmen Ihrer Mittelfriststrategie Compass 2023 planen Sie ein durchschnittliches jährliches Erlöswachstum von 10%, davon 5% aus Akquisitionen. Wie viel davon wird erreicht sein, wenn die Übernahme der Crypto Finance AG abgeschlossen ist?
Wie Sie richtig sagen: Unsere 10-%-Wachstumsformel sagt: Wachstum von 10% pro Jahr sowohl im Umsatz als auch im Gewinn. Unsere organischen Initiativen sollen 5% Wachstum bei den Nettoerlösen beitragen. Rund 5 weitere Prozent sollen aus Zukäufen kommen. Die Crypto Finance wird erst nach dem Closing in das neue Geschäftsjahr 2022 eingehen. Aber 2021 gehen die ISS, die Institutional Shareholder Services, das UBS-Fondcenter-Geschäft und unsere kleineren Zukäufe ein. Dieses Jahr sind wir stärker durch Zukäufe gewachsen als organisch. Wir liegen voll auf Plan, was die Umsetzung unserer Strategie für das Jahr 2023 angeht.
Mit Institutional Shareholders Services hat die Deutsche Börse die Mehrheit an einem führenden Anbieter von ESG-Ratings erworben. Wie läuft das ESG-Rating-Geschäft der ISS?
Das ISS-Geschäft läuft sehr gut – besser, als wir dem Kapitalmarkt im November 2020 angekündigt haben. Wir haben deutlich höhere Wachstumsraten, die zusätzlich gestützt werden durch Zukäufe, die ISS tätigt. Seitdem die ISS zur Deutschen Börse gehört, haben wir in Australien zugekauft und in den USA Discovery Data erworben. Drei Viertel des Geschäftes der ISS sind dem Bereich ESG zuzuordnen. Wir gewinnen in großem Umfang Kunden dazu. Das ist gut, denn der Markt wird jetzt verteilt. Wichtig ist auch noch ein Aspekt: ISS ist der drittgrößte Anbieter auf dem Markt. Es ist einfach wichtig, dass es im Bereich ESG auch ein starkes europäisches Unternehmen gibt.
Zu den Wachstumsgeschäftsfeldern, auf die Sie große Hoffnungen setzen, zählt das OTC-Clearing. Wie entwickelt sich dieses Geschäft?
Als wir das OTC-Clearing im Jahr 2018 angegangen sind, haben uns alle abgeraten. „Das wird ein Waterloo“, wurde uns gesagt. Es mache keinen Sinn, gegen so einen tiefen Liquiditätspool wie den in London ein konkurrierendes Angebot aufzusetzen. Das werde die Deutsche Börse nicht schaffen. Wir haben es dennoch gemacht. Als Privatmann habe ich zwar gehofft, dass der Brexit nicht kommt, aber als Geschäftsmann war mir klar: Wenn der Brexit kommt, können wir uns über einen von uns aufgebauten Liquiditätspool für in Euro denominierte Zinsderivate Geschäft verschaffen. Entgegen allen Voraussagen haben wir inzwischen einen 20-prozentigen Marktanteil. Vor vier Jahren standen wir noch bei unter 1%. Wir müssen jetzt abwarten, wie die EU-Kommission in Sachen Verlängerung entscheidet. Klar ist: Es ist gefährlich, wenn das systemische Risiko in diesem Geschäft für die EU-27 in einem Drittstaat – und das ist Großbritannien nach dem Brexit – gemanagt wird.
Das Interview führte