GastbeitragKünstliche Intelligenz in der Versicherungsbranche

Algorithmen sind nicht empathisch

Digitalisierungsberater gehen von Umwälzungen in der Versicherungsbranche aus. Doch Algorithmen sind nicht empathisch. Gerade in komplexen Schadenfällen stößt ihr Einsatz an Grenzen.

Algorithmen sind nicht empathisch

Algorithmen sind nicht empathisch

Vor ein paar Jahren konnten die Vorreiter in der Finanzdienstleistung, die zuvor zielgenau in die Digitalisierung investiert hatten, erste Erfolge einfahren. Nachzügler, die die Innovationsforschung „laggards“ nennt, begannen damals erst, disruptive Veränderungen bei Geschäftsmodellen, Dienstleistungsqualität und Unternehmensprozessen mit Hilfe digitaler Optionen anzugehen.

Bereits damals habe ich als Vertreter eines Hauses, das die Geschäftsfelder Wohnen und Versichern unter einem Dach vereint und frühzeitig die digitale Transformation gestartet hat, dazu aufgefordert, Digitalisierung nicht als Selbstzweck oder reine Kostensenkungs-Evolution zu verstehen. Vielmehr geht es darum, die Bedürfnisse und Wünsche der Kundinnen und Kunden konsequent in den Mittelpunkt zu stellen. Und diese wollen keine Beratungsautomaten, sondern Partner, die zwar schnell und effizient, aber auch verlässlich, nahbar und fair sind.

Umwälzungen voraus?

Heute reden wir vor allem über künstliche Intelligenz (KI). Dadurch steht unsere Branche vor dem nächsten Entwicklungsschritt. Digitalisierungsberater preisen das technologisch Mach- und Denkbare als das Wünschenswerte an und gehen von geradezu dramatischen Umwälzungen aus. Das mag so sein. Jedoch: KI ändert nichts daran, dass auch die nächste Stufe der Digitalisierung nur dann wertschöpfend ist, wenn sie nicht allein als Instrument für mehr Kosteneffizienz, sondern vor allem als strategisches Tool für eine höhere Kundenzufriedenheit betrachtet und eingesetzt wird.

Nun wird niemand bestreiten, dass die konsequente Digitalisierung und der Einsatz hochleistungsfähiger IT-Systeme sowohl im Frontend als auch im Backend große Chancen bieten. Weitgehend Einigkeit besteht über die Rolle digitaler Tools als Beschleuniger interner Prozesse, um Vorgänge schneller zu bearbeiten, Fehler zu minimieren und in der Folge Beraterinnen und Berater von Routineaufgaben zugunsten einer intensiveren Kundenbetreuung zu entlasten. Versicherer haben einen Hebel, um den Verwaltungsaufwand bei Standardvorgängen einzudämmen.

Beschleunigung von Prozessen

Beim Bausparen oder in der Baufinanzierung kann Digitalisierung vielfach Prozesse beschleunigen und Kundinnen und Kunden Zeit und Nerven sparen. So ist die Online-Beantragung von Bausparverträgen inzwischen vielfach gängig. Antragsprozesse für Immobilien- oder Sanierungsfinanzierungen werden beschleunigt, indem Antragstellerin oder -steller benötigte Unterlagen selbst bei einem Baufinanzierungsportal hochladen. Vertragsschritte bis hin zu Kreditauszahlungen können teils online bei Finanzdienstleistern beauftragt werden – und Kundenportale bieten praktische Selfservices.

Keine KI nach Ahrtal-Katastrophe

Ob der Einsatz von KI immer dem Interesse der Kundinnen und Kunden entspricht, ist offen. Wenn wir zum Beispiel bei Versicherungen nicht mehr über Beulen im Kotflügel, sondern über komplexere Schadensfälle mit zum Teil existenzieller Bedeutung für die Versicherungsnehmer sprechen, dann ist die Frage zu stellen, ob die Schadenbearbeitung tatsächlich allein mit KI erfolgen kann.

Ein Beispiel dafür ist die Flutkatastrophe 2021 im Ahrtal. Denn zum einen kann KI trotz aller Innovationsgeschwindigkeit die Komplexität solcher Fälle (noch) nicht erfassen. Zum anderen – und das ist mindestens ebenso wichtig – würde man als Versicherer der nachvollziehbaren emotionalen Notlage von Menschen, die über Nacht ihr Hab und Gut verloren haben, nicht gerecht.

Kontakt gesucht

Algorithmen sind nicht empathisch, und Menschen suchen in einer solchen Situation keine Maschine, sondern den persönlichen Kontakt. Das ist eben auch Teil unserer Verantwortung als Versicherer: Ansprechpartner zu sein, Lösungssucher, auch Helfer in der Not.

Auch im Produktvertrieb gilt es zu differenzieren: Standardangebote lassen sich heute problemlos online strukturieren. Die meisten Kundinnen und Kunden erwarten sogar, dass derlei Produkte einfach, bequem und ohne großen Zeitaufwand abzuschließen sind. So gilt der Online-Versicherer Adam Riese, den die Wüstenrot & Württembergische AG bereits vor sieben Jahren genau mit diesem Ziel auf den Weg gebracht hat, als eine der erfolgreichsten Neugründungen in der Branche.

Mensch für Beratung gefragt

Auch auf der Produktseite setzt die Komplexität von individuellen Lebenssituationen und Zielen der Kundinnen und Kunden der KI menschliche Grenzen. Grundlegende, langfristig angelegte Entscheidungen, zum Beispiel in der Altersvorsorge mit Immobilien oder im Vermögensaufbau, werden bis auf Weiteres die Domäne qualifizierter Beraterinnen und Berater bleiben.

Die aktuelle Marktentwicklung mit inflationsbedingt deutlich höheren Kosten für Versicherer und Kunden wird die Transformation in Richtung KI-gestützter Systeme zweifellos beschleunigen. Das ist so lange gut, wie dies vor allem den Kundinnen und Kunden direkt oder indirekt nutzt. Wir sollten den Menschen hochhalten – und die KI nutzbringend einsetzen für die Menschen, die uns ihr Vertrauen schenken.

Jürgen A. Junker

Vorstandsvorsitzender der Wüstenrot & Württembergische AG