„Der Marktzyklus gibt uns Rückenwind“
Stefan Kroneck.
Herr Jurecka, die Märkte fürchten sich vor einer Inflation. Wie bewerten Sie das?
Wir beobachten klare inflationäre Tendenzen. Die Kardinalfrage ist, ob es sich dabei um einen temporären Effekt – etwa getrieben durch die Ölpreisentwicklung – oder um einen langfristigen Trend handelt. Das bleibt abzuwarten.
Versicherer kamen in der Vergangenheit tendenziell mit Inflation besser zurecht als mit Deflation. Gilt das heute auch noch so?
Ich würde an das Thema anders herangehen. Im Risikomanagement muss man auf alle denkbaren Szenarien vorbereitet sein. Bei Munich Re ist es zum Beispiel Standard, sich gegen Inflation durch Hedging abzusichern. Höhere Teuerungsraten lassen sich auch in den Vertragserneuerungsrunden mit Erstversicherern und industriellen Großkunden abbilden. Inflation bereitet uns daher keine große Sorge.
Ist der derzeitige Inflationsschub das Vorzeichen einer nachhaltigen Zinswende?
Die Zinsen bleiben wohl auf längere Sicht tief. Die expansive Geldpolitik der führenden Notenbanken ist dafür die Hauptursache. An diesem Umfeld wird sich auf absehbare Zeit nichts wesentlich ändern. Die Zentralbanken haben das Problem, wie sie aus der in der Folge der Finanzkrise aus gutem Grund selbst ausgelösten Zinsfalle herauskommen, ohne das Wirtschaftsgeschehen zu stark abzubremsen.
Die Nachwirkungen des Corona-Schocks dämpfen die Marge. Warum versichert die Munich Re einen Teil der Pandemierisiken nicht mehr?
Man muss differenzieren. Die Versicherungsbranche und Munich Re decken weiterhin Pandemierisiken ab. So zum Beispiel Mortalitätsrisiken in der Lebensversicherung. Anders sieht es in einzelnen Sparten der Schadenversicherung aus. Hier hat sich unser Risikoappetit infolge der Pandemie tatsächlich reduziert. Veranstaltungsausfälle versichern wir heute nicht mehr gegen Pandemierisiken. Änderungen gibt es auch bei Betriebsunterbrechung.
Wieso haben Sie das gemacht?
Die beiden genannten Sparten der Schadenversicherung wurden branchenweit ursprünglich mit Blick auf lokale Ereignisse angeboten. Leider waren manche Policen hier nicht klar genug formuliert. Es ist eine Herausforderung für die Versicherbarkeit von Risiken, wenn aufgrund der Pandemie flächendeckende staatliche Infektionsschutzmaßnahmen notwendig werden und damit Schäden nicht mehr lokal, sondern weltweit gleichzeitig eintreten. Diese Kumulrisiken hat die Branche zuvor nicht ausreichend berücksichtigt.
Welche Lehren ziehen Sie aus dieser Erfahrung?
Das Pandemierisiko in seiner Gesamtheit ist gemessen an der Risikotragfähigkeit der weltweiten Versicherungsbranche zu groß. Privatwirtschaftlich ist das daher nicht mehr versicherbar. Das ist ein Feld für staatlich gestützte Poollösungen.
Die Preiswende bei Rückversicherungsdeckungen gibt der Branche Rückenwind. Wie lange wird Ihrer Schätzung nach der derzeitige Zyklus eines „harten Marktes“ andauern?
Wir beobachten tatsächlich einen sich verhärtenden Markt. Ein wesentlicher Treiber für die zukünftige Entwicklung ist die Schadenentwicklung. Die sogenannte Schadeninflation spielt auch eine Rolle: Wenn zum Beispiel die Justiz hohe Schadenersatzforderungen durchsetzt, wie wir das derzeit in den USA sehen. Ein anderer Treiber sind die niedrigen Zinsen, die angemessene Preise für Versicherungsschutz noch wichtiger machen. Es ist aber schwierig, einzuschätzen, wie diese treibenden Kräfte auf längere Sicht wirken. Sicher ist, dass die Rückversicherungsmärkte auch in der Zukunft zyklisch verlaufen werden.
Wie verläuft das Wachstum in den Schlüsselmärkten?
In Amerika, in Asien und in Europa verzeichnen wir erfreuliche Zuwachsraten im Neugeschäft. Das zeigten die jüngsten Vertragserneuerungsrunden. Turnusgemäß stand Anfang Juli vor allem Amerika-Geschäft zur Erneuerung an.
Welche Rolle spielt dabei das Geschäft mit Cyberrisiken, wenn man in Betracht zieht, dass Hackerangriffe gegen Unternehmen deutlich zunehmen?
Cyberangriffe sind ein globales Risiko. Als einer der führenden Risikoträger ist es für uns von strategischer Bedeutung, auf diesem Gebiet Versicherungsschutz anzubieten. Wir haben dafür als einer der ersten Know-how aufgebaut. Es bestehen aber auch auf diesem Feld kumulierende Risiken, zum Beispiel ein weltweiter Ausfall des Internets. Eine privatwirtschaftliche Versicherungslösung ist für diesen Fall nicht möglich. Der Schaden wäre zu groß.
Wie stabil ist Ihr Gewinnziel 2021, wenn man die anstehende Hurrikan-Saison in Betracht zieht?
Im laufenden Jahr streben wir eine Steigerung des Konzernüberschusses auf 2,8 Mrd. Euro an. Unser Ziel basiert auf der von uns erwarteten Großschadenbelastung. Diese budgetieren wir mit dem Erwartungswert auf Basis der langfristigen Entwicklung. Die tatsächliche Entwicklung im aktuellen Geschäftsjahr kann hiervon naturgemäß abweichen.
Birgt die sich ausbreitende Delta-Variante des Covid-19-Virus ein Prognoserisiko fürs laufende Jahr?
Der weitere Pandemieverlauf lässt sich nicht zuletzt aufgrund der Ausbreitung von Mutationen wie der Delta-Variante nur schwer abschätzen. Für uns sind die Folgerisiken aber vergleichsweise überschaubar. Denn Veranstaltungsausfälle fallen nunmehr als Schadenrisiko weitgehend weg.
Was ist mit den Corona-Belastungen aus dem Vorjahr?
Die Schäden aus dem Jahr 2020 sind noch nicht vollständig abgerechnet. Für diese Schäden haben wir 2020 große Rückstellungen gebildet. Die Abrechnungen könnten theoretisch zu Nachreservierungen führen oder im besten Fall zu Teilauflösungen bei den Rückstellungen. Letzteres wäre der Fall, wenn die Schäden doch nicht so hoch ausgefallen sind wie ursprünglich kalkuliert.
Wie bewerten Sie die Großschadenentwicklung im bisherigen Jahresverlauf?
Im ersten Quartal registrierten wir eine außergewöhnliche Kältewelle im Süden der USA, unter anderem in Texas. Die daraus resultierenden Schäden waren für die Versicherungswirtschaft insgesamt hoch.
Sind ungewöhnliche Ereignisse dieser Art auf den Klimawandel zurückzuführen?
Es ist wissenschaftlich nicht möglich, einzelne Schadenereignisse auf den Klimawandel zurückzuführen. Gleichwohl führt der Klimawandel insgesamt eindeutig zu mehr und stärkeren wetterbedingten Naturkatastrophen. Konsequente und globale Maßnahmen gegen den Klimawandel sind daher von größter Bedeutung.
Analysten rechnen für die kommenden Jahre mit Konzernüberschüssen, die die Schwelle von 3 Mrd. Euro überschreiten. Welchen Einfluss hat dabei der verhärtete Markt?
Für unsere Wachstumsstrategie 2025 haben wir uns ambitionierte Finanzziele gesetzt. Bis Mitte der laufenden Dekade wollen wir unter anderem die Eigenkapitalrendite sukzessive auf eine Bandbreite von 12 bis 14% erhöhen. Das Ergebnis je Aktie soll pro Jahr um mehr als 5% zulegen. Wir verfügen über eine Fülle von Wachstumsinitiativen, unabhängig vom Marktumfeld.
Welche Rolle spielt dabei die Ergo-Gruppe?
Unsere Strategie haben wir als Konzern mit dem Erst- und Rückversicherungsgeschäft formuliert. Die Ergo soll hinsichtlich Eigenkapitalrendite in den nächsten fünf Jahren auf Augenhöhe mit der Rückversicherungssparte kommen. Die Ergo ist auf dem richtigen Weg, das zu schaffen. Unsere Düsseldorfer Tochtergesellschaft ist ein integraler Bestandteil des Konzerns Munich Re. Das stabilere Erstversicherungsgeschäft trägt auch dazu bei, Schwankungen im Rückversicherungsbereich auszugleichen.
Warum setzt die Munich Re auf Expansion des Geschäfts unter anderem mehr über Zukäufe im Erstversicherungsbereich als im Rückversicherungssegment?
Grundsätzlich setzen wir auf organisches Wachstum, sowohl in der Erst- als auch in der Rückversicherung. Die Gefahr von Dissynergien bei Akquisitionen ist im Rückversicherungssegment größer, weil wir in diesem Bereich globaler Marktführer sind. Wir decken die volle Breite des Geschäfts bereits ab. Die Wahrscheinlichkeit, dass in der Erstversicherung zugekauft wird, ist daher grundsätzlich höher. In jedem Fall sollten Akquisitionen überzeugende Beiträge zur Wertschöpfung leisten.
Wodurch sind die Preise für Akquisitionen in der Versicherungsbranche so stark gestiegen?
Eine ganze Reihe von Assetklassen verzeichnet gestiegene Bewertungen. Darin spiegelt sich unter anderem auch das Zinstief wider.
Die Zeichen stehen bei der Munich Re auf Expansion aus überwiegend eigener Kraft. Welche Bedeutung haben dann Aktienrückkäufe für Ihre Shareholder-Strategie?
Kern unserer Kapitalmanagementstrategie ist und bleibt die Dividende. Seit mehr als einem halben Jahrhundert haben wir diese nicht gekürzt, sondern kontinuierlich erhöht. Aktienrückkäufe sind weiterhin ein wichtiges, zusätzliches Instrument unseres aktiven Kapitalmanagements, das wir opportunistisch einsetzen werden. Diese Rückkäufe stehen im Wettbewerb zu Investitionen in Wachstum. Derzeit investieren wir in organisches Wachstum. Der Marktzyklus gibt uns Rückenwind.
Die Munich Re ist ein wichtiger institutioneller Anleger. Wie stemmen Sie sich in der Kapitalanlagestrategie gegen das Zinstief?
Wir bauen unsere Aktivitäten bei alternativen Investments aus, auch vor dem Hintergrund von Nachhaltigkeitszielen wie dem angesprochenen Kampf gegen den Klimawandel. Dabei handelt es sich beispielsweise um Infrastrukturprojekte, erneuerbare Energien oder auch Waldbestände.
Wie beurteilen Sie Ihre Kapitalanlagestrategie?
Wir sind strategisch breit aufgestellt. Das hilft, die Auswirkungen des Niedrigzinsumfelds etwas auszubalancieren. Sollte der Zins auf dem unverändert niedrigen Niveau bleiben, sinkt unsere Kapitalanlagerendite mittelfristig auf 2,5%. Das ist auf die Neuanlagen zurückzuführen, die dann im Schnitt niedriger verzinst werden.
Bei der Solvenzquote operiert Munich Re an oberen Rand der hauseigenen Zielspanne von 170 bis 220%. Warum?
Das ist für uns eine optimale Bandbreite. Am oberen Rand hilft es uns, hohe Belastungen noch leichter abzufedern. Kapitalstärke ist ein wichtiger differenzierender Faktor für uns im Wettbewerb.
Wie beurteilen Sie die Kursentwicklung der Aktie von Munich Re?
Der Kapitalmarkt hat bemerkt, dass wir und die Versicherungsbranche insgesamt die Coronakrise gut weggesteckt haben. Ich bin fest davon überzeugt, dass in der Munich Re Aktie mehr Wert steckt, als derzeit im Preis abgebildet ist.
Das Interview führte