ESG erreicht den Aktienemissionsmarkt
Von Bernd Neubacher, Frankfurt
Nach dem Unternehmenssektor, dem Assetmanagement sowie dem Fremdkapital-Primärmarkt hat der Megatrend ESG mit dem Aktienemissionsgeschäft ein weiteres Segment des Kapitalmarktgeschäfts erreicht. „Ob Geldgeber, Berater oder Unternehmen: Bei allen drei Spielern sehen wir, dass ESG relevanter wird“, sagt etwa Florian Forst, Partner und Leiter des Bereichs Financial Services in Zentraleuropa bei Arthur D. Little, der Börsen-Zeitung. Folgen hat dies unter anderem für die Governance von Börsenkandidaten, wie sich schon vor einiger Zeit abgezeichnet hat.
Vorgabe Diversität
So kündigte David Solomon, Chef von Goldman Sachs, bereits zu Beginn des vergangenen Jahres an, ab Juli werde die US-Bank in den USA und Europa nur mehr Börsengänge von Unternehmen übernehmen, deren Board mindestens ein diverses Mitglied in seinen Reihen habe; seit Beginn des laufenden Jahres sollen es zwei sein. Ob Goldman infolge dieser Vorgabe bereits auf Erträge verzichten musste, wollte die Bank am Freitag auf Anfrage nicht konkretisieren. Dem Vernehmen nach hatte die Selbstbeschränkung indes bisher keinen Einfluss. Viele IPO-Kandidaten zeigen sich bereits zumindest ein bisschen divers, und der Aktienprimärmarkt, in dem Goldman eine starke Stellung hat, erlebte zuletzt ohnehin einen Boom. Dennoch: Sparkassen etwa hätten Probleme, Goldman für ein IPO zu mandatieren, sofern sie dies jemals wünschen sollten – nur 6% ihrer Vorstandsmitglieder sind bislang weiblich.
Nicht nur die Vielfalt im Management, auch Zulieferer und Dienstleister werden stärker überprüft, und dies nicht nur im Geschäft mit Public, sondern auch mit Private Equity, wie Forst berichtet. So setzen Finanzinvestoren wie EQT, die personell eher schmal aufgestellt sind und im Zuge von Due Diligence daher externe Dienstleister hinzuziehen, nur mehr auf Adressen mit einem entsprechenden Anteil von Frauen. „Mit einem reinen Männerteam brauchen Sie nicht mehr ankommen“, sagt Forst.
Dünne Datenlage
Während Rennlisten für Green Bonds und ESG-Fonds gang und gäbe sind, ist die Datenlage zu nachhaltigen Aktivitäten im Aktienprimärmarkt sowie im Geschäft mit Beteiligung deutlich dünner. Der breite Trend ist freilich unverkennbar. So geht Nomura mit Blick auf M&A davon aus, dass die Beratung zu ESG-Fragen im vergangenen Jahr 1,8 Mrd. Dollar an Erträgen gebracht hat, 46% mehr als im Jahr davor, und damit bereits 7% des globalen Aufkommens an Beratungsprovisionen im M&A-Markt ausgemacht hat. Und laut einer Schätzung von Morgan Stanley und Oliver Wyman wird das globale nach ESG-Aspekten verwaltete Vermögen von derzeit 2 Bill. Dollar bis 2025 auf 6,5 Bill. anschwellen.
Neben technologischen Neuerungen und Kapitalflüssen treiben politische Prioritäten die Entwicklung. Allein mit dem Green Deal der EU-Kommission stehen 1 Bill. Euro an privaten und öffentlichen Investitionen bis 2030 an, mit dem Energie- und Infrastrukturplan Joe Bidens kommt ein billionenschweres Infrastrukturprogramm dazu.
In den Vereinigten Staaten, die ohnehin nicht dafür bekannt sind, halbe Sachen zu machen, treibt der Versuch, den Kapitalismus nachhaltig zu gestalten, bereits kuriose Blüten. Wie Raffaela Ritter, bei Arthur D. Little Partner und Head of Financial Services für den deutschsprachigen Raum und Osteuropa, berichtet, hat etwa die Partners Group ihren Beschäftigten verboten, im Zusammenhang mit der Akquise von Geschäft über „Deals“ oder von „Pitches“ zu sprechen, wie dies jahrzehntelang in der Branche üblich gewesen ist, da diese Begriffe von einem allzu kurzfristigen Fokus zeugten. Entsprechende Sanktionen reichen demnach bis hin zur Kürzung variabler Vergütung. Jenseits sprachpolizeilicher Auswüchse bei einzelnen Spielern ist allerdings festzustellen, dass dezidiert aufs Kapitalmarktgeschäft bezogene ESG-Regelwerke noch dünn gesät sind: ein Pendant etwa für die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD), deren überarbeitete Fassung bald in der EU die Publikationspflichten für Unternehmen verschärfen wird, gibt es für Börsengänge nicht.
Ritters Kollege Forst zeigt sich aber gerade deshalb von der jüngsten Entwicklung begeistert. Sein Argument: Solche Regelwerke braucht es nicht mehr. „Wie sich zeigt, regelt das zunehmend schon der Markt“, sagt der Manager. Denn ESG sei für Emittenten längst ein relevanter Faktor, wenn es darum gehe, an entsprechende Berater und Investoren zu gelangen und auf diese Weise einen höheren Preis zu erzielen.
Nicht zuletzt besäßen ESG und Governance gerade für jüngere Berufstätige einen hohen Stellenwert und seien damit schon deshalb fürs Talent Management von Unternehmen von Relevanz, gibt Ritter zu bedenken: „Als ganz harter Faktor kommen allerdings Haftungsrisiken infolge von Aussagen zu ESG-Aspekten im Prospekt hinzu“, sagt sie. Arthur D. Little überprüft daher mit Hilfe von Anwälten entsprechende Aussagen von Kunden.
Zugleich erweist sich die Abwesenheit von Regulierung als Problem. Investoren und Unternehmen litten darunter, „dass vieles noch nicht geregelt ist“, sagt Ritter. Was schiefgehen kann, wenn aggressives Marketing, unklare Regeln und öffentlicher Fokus zusammenkommen, zeigt für Forst das Beispiel der mit Greenwashing-Vorwürfen und einer Untersuchung der US-Wertpapieraufsicht konfrontierten Deutsche-Bank-Tochter DWS. „Das Problem ist, dass die Regulierung sich als bewegliches Ziel erweist“, räumt er ein. „Wäre das Zielbild klar, könnte man darauf hinarbeiten. Diese Ungewissheit aber ist vor allem für durchstrukturierte Banken schwierig zu akzeptieren.“
„Die Banken wünschen sich, dass die Vorgaben konkreter werden“, berichtet Ritter. „Sie freuen sich regelrecht auf die im kommenden Jahr anstehenden Klima-Stresstests, weil sie derzeit im Dunkeln tapsen.“ Dies deckt sich mit den Erfahrungen der Commerzbank. Deren Finanzvorstand Marcus Chromik nannte als größte Herausforderung für eine ESG-konforme Steuerung der Portfolios vor Wochen die Verfügbarkeit der dazu erforderlichen Daten und zeigte sich mit Blick auf den 2022 anstehenden Stresstest der Europäischen Zentralbank zu Klimarisiken voll Vorfreude: „Da werden wir sehr viel über unser Portfolio lernen.“ Vereinheitlichung im Finanzsektor tut auch deshalb not, weil Unternehmen etwa im Zuge von Kreditanfragen derzeit, je nachdem, an welche Bank sie sich wenden, unterschiedlichen Anfragen zu ESG-Daten entgegensehen.
Unisono prognostizieren Ritter und Forst, dass im Zuge des Megatrends ESG auch der Ansatz vieler Beteiligungsgesellschaften auf den Prüfstand kommt. „Viele Private-Equity-Gesellschaften haben sich bereits eigene Sustainability-Richtlinien gegeben, egal ob sie sich auf die Sanierung oder auf das Wachstum von Unternehmen konzentrieren. Financial Engineering alleine reicht nicht mehr aus“, sagt Forst. Betroffen von diesem Ansatz seien nicht nur der eigene Betrieb, sondern auch die Zielgesellschaften: „Die Beteiligungsgesellschaften analysieren ihre Portfolios und stoßen im Zweifelsfall Positionen ab“, sagt Ritter. „Der Druck kommt dabei auch von den Kunden der Beteiligungsgesellschaften. Die Investoren nehmen es nicht mehr hin. Und niemand will deshalb in der Öffentlichkeit angezählt werden.“
Kunden machen Druck
„Private Equity führt den Trend an“, behauptet sogar Jeff McDermott. Die japanische Investmentbank Nomura hatte die von ihm als auf Nachhaltigkeit spezialisierte Investment-Banking-Boutique gegründete Greentech Capital Advisors Ende 2019 übernommen. Vor wenigen Wochen hat sie ihn als Global Co-Head of Investment Banking berufen. Investoren forderten von den Beteiligungsgesellschaften, Informationen in Sachen Nachhaltigkeit zu veröffentlichen, so dass viele Manager sich die ESG-Faktoren einer Zielgesellschaft genau anschauten, bevor sie sich ans Anlagekomitee wendeten, um eine Übernahme vorzuschlagen, sagt McDermott. Auch fragten Anleger die Private-Equity-Gesellschaften, wie diese auf das Management einer Beteiligung einwirkten, um ein nachhaltigeres Geschäftsgebaren durchzusetzen. Dieser Trend werde anhalten. Nicht zuletzt wendeten sich wiederum Finanzinvestoren an Nomura mit der Bitte, sie in der Frage zu beraten, wie man in unter ESG-Aspekten chancenreiche Unternehmen investiere. Seit dem Zusammenschluss mit Nomura habe Greentech ihre Erträge nahezu verdoppelt, sagt er der Börsen-Zeitung – vermutlich sagt dies nicht nur über McDermotts Mannschaft etwas aus, sondern ebenso über die Konjunktur in diesem Marktsegment. Konkreter will er sich zur Geschäftslage nicht äußern.
Das Geschäft läuft
Dass zumindest in Europa das Kapitalmarkt- und Beratungsgeschäft von Nomura floriert, geht indes schon aus dem jüngsten Geschäftsbericht der in Frankfurt ansässigen Wertpapierhandelsbank und Investment-Banking-Einheit Nomura Financial Products Europe hervor. Im Geschäftsjahr per März 2021 zogen die Provisionserträge von 91 Mill. auf 104 Mill. Euro an, der Vorsteuergewinn legte von 35 Mill. auf 50 Mill. Euro zu.
Allerdings gibt es auch unter den Finanzinvestoren offenbar solche, die ihre Portfolios anhand von ESG-Kriterien durchkämmen, und solche, welche lieber in der Gunst der Anleger bereits gefallene Assets günstig einsammeln. So hat das Private Equity Stakeholder Project (PESP) ermittelt, dass Beteiligungsgesellschaften seit 2010 rund 1,1 Bill. Dollar in Energie investiert haben. Wie eine Analyse der Portfolios von zehn der größten Private-Equity-Gesellschaften, unter ihnen Apollo, Blackstone und Carlyle, durch PESP ergeben hat, sind derzeit mehr als 300 Portfolio-Unternehmen dem Energiesektor zuzurechnen und nur ein Fünftel von ihnen dem Segment Erneuerbare Energien. So erwarb Carlyle im vergangenen Jahr für rund 825 Mill. Dollar die Assets von Occidental Petroleum in Kolumbien. Zuvor hatte Carlyles Hilcorp Energy für 5,6 Mrd. Dollar die Assets von BP in Alaska geschluckt. Schiefergas-Aktivitäten von ConocoPhillips im US-Bundesstaat Wyoming wanderten wiederum ins Portfolio von KKR, und Oaktree initiierte eigens ein Akquisitionsvehikel für Öl- und Gas-Assets.
Momentan verstärke sich der Fokus auf die Sektoren Transport, Nahrungsmittel, Wasser und Entsorgung, berichtet derweil Nomura-Manager McDermott, der das japanische Haus zum globalen Marktführer in der Beratung nachhaltiger Börsenaspiranten machen will. In Europa, dem Nahen Osten und Afrika befassen sich 70 Beschäftigte allein unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit mit der Abdeckung von Industriesektoren, M&A sowie Fragen der Transformationsfinanzierung, wie er berichtet. Konzernweit hat sich Nomura demnach vorgenommen, den Ertrag aus dem Beratungsgeschäft im globalen Investment Banking bis Ablauf des im März 2024 endenden Geschäftsjahres um 50 % zu steigern.
Nach Angaben des Managers spielt das Thema Greenwashing im Geschäft eine deutlich wichtigere Rolle als noch vor etwa zwei Jahren. Ein Problem sei dabei, dass es den von Unternehmen publizierten Berichten an konsistenten Daten zu ESG mangele. Es falle sehr schwer, an konkrete Informationen zu gelangen; entsprechend hoch seien die entsprechenden ESG-Risiken, Vergleiche schwierig. Dabei werde ESG-Due-Diligence immer wichtiger, sagt McDermott.
Als Beispiel für die Risiken einer versäumten ESG-Due-Diligence führt McDermott die US-Kohleminenbranche ins Feld, deren Bewertungen vor rund fünf Jahren ihren Höhepunkt erreicht hatten. Zwei Jahre später sei ein Viertel der Unternehmen insolvent gewesen, berichtet er. Anleger hätten unversehens die Notwendigkeit erkannt, dass die Unternehmen ihren Fußabdruck verringerten – infolge zu hoher ESG-Risiken blieb den Gesellschaften der Eigen- und Fremdkapitalmarkt versperrt, und ihr Endwert fiel auf null.
Um einem ähnlichen Schicksal zu entgehen, machten sich viele traditionelle Unternehmen auf die Suche nach Zukäufen, die ihr ESG-Profil verbessern sollen, sagt McDermott. Die Bewertung solcher Unternehmen unterscheide sich freilich gründlich von der herkömmlichen Methode: „Da können Sie nicht den Standardansatz nehmen“, gibt der Manager zu bedenken. So ist seinen Angaben nach etwa im Falle von Anbietern disruptiver Technologie eine risikoadjustierte Bewertung durch Spezialisten gefragt, zu denen McDermott seine Teams fraglos zählt. So beriet Nomura in jüngster Zeit Iberdrola bei der Akquisition von Infigen Energy, einer von Australiens größten rein auf die Erzeugung erneuerbarer Energie konzentrierten Gesellschaften mit Börsennotiz, sowie Next Kraftwerke bei deren Akquisition durch Shell. Bundesweit hat Nomura etwa Energieversorger im Auge, die ihr Projektportfolio im Bereich erneuerbarer Energien ausbauen wollen, oder Automobilkonzerne, die durch Zukäufe ihre Kompetenzen bei sauberen Antrieben und damit verbundenen Technologien stärken wollen.