Jetzt aus der Pandemie lernen
Politik, Gesellschaft und Unternehmen müssen jetzt damit beginnen, die richtigen Schlüsse aus der Corona-Pandemie zu ziehen. Denn in den Ergebnissen einer konsequenten Krisenaufarbeitung liegen gewaltige Chancen.
Dies vorweg: Die Corona-Pandemie hat das ganze Land in ihrem Ausmaß und ihrer Dauer unvorbereitet getroffen. Nach mehr als 15 Monaten Krise bleibt die bemerkenswerte Erkenntnis von der Anpassungsfähigkeit, die auf allen Ebenen zu beobachten war: Individuen, Gesellschaften und Staaten, aber auch vielen Unternehmen ist es gelungen, sich in die neuen Umstände einzufügen. Wenn Staat, Gesellschaft und Unternehmen auch die Aufbereitung der Pandemie konsequent, ehrlich und ohne Scheuklappen angehen, besteht die Hoffnung, dass wir die nächste pandemische Krise noch besser bewältigen. Zudem nützt die Behebung mancher Schwachstellen nicht nur in Krisenzeiten, sondern wird sich auch in ruhigeren Zeiten positiv auswirken.
Erhöhter Handlungsbedarf
Am schwierigsten dürfte die Aufarbeitung da fallen, wo sie ethische Fragestellungen berührt. Wenn Schutz- und Behandlungsmöglichkeiten oder Impfstoffe ein knappes Gut sind, muss die Reihenfolge der Nutzung geregelt werden. Politiker und Mediziner mussten in der Coronakrise diese Reihenfolge festlegen und damit über Lebenschancen von Menschen entscheiden. Die Frage „Wer zuerst?“ war in Deutschland stark auf die Impfreihenfolge konzentriert und glücklicherweise nicht auf Intensivbetten wie in Italien, Frankreich und Polen.
Ohne Schuldzuweisung sollte ermittelt werden, wie gut die Impfreihenfolge das Ziel unterstützt hat, die Lebenszeit in der Bevölkerung zu schützen. Sind die Vulnerabilität eines Menschen, seine natürliche Lebenserwartung und das Gefährdungspotenzial, das von ihm auf andere Menschen ausgeht, auf vernünftige Weise in der Impfreihenfolge reflektiert worden und was können wir in der nächsten Pandemie besser machen und damit mehr Lebenszeit schützen?
Auf der politischen Ebene sollte das Spannungsfeld zwischen Datenschutz, Gesundheitsschutz und Bildungschancen unter Pandemiebedingungen neu austariert werden. Ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bedeutsamer als kollektiver Gesundheitsschutz oder darf es zu diesem Zweck eingeschränkt werden? Dürfen Eltern unter Hinweis auf den Datenschutz die digitale Übertragung einer Unterrichtsstunde blockieren und so den Bildungszugang für Mitschülerinnen und Mitschüler ihres Kindes einschränken? Die Politik ist gefordert, hier praktikable und rechtlich belastbare Umsetzungspfade zu entwickeln, um solche Spannungsfelder für zukünftige Pandemien besser aufzulösen.
Zweifellos haben sich Lehrerinnen und Lehrer während des Corona-Lockdowns in besonderem Maße für ihre Klassen eingesetzt. Sie hielten den Schulbetrieb unter erschwerten Bedingungen aufrecht und ihnen allen gilt unser Dank für diese Leistung. Allerdings traten deutliche technische Defizite in unserem Schulsystem zutage. Dringend benötigt werden belastbare Systeme, über die digitale Unterrichtsformate stattfinden und Lernmaterialien zur Verfügung gestellt werden können. Lehrkräfte sollten ebenso wie ihre Klassen die technische Ausstattung zur Verfügung gestellt bekommen und für die Anwendung umfassend geschult werden. Noch heute gibt es Schülerinnen und Schüler, die nicht eine einzige Stunde Online-Unterricht besucht haben, zum Beispiel, weil zu Hause kein Computer zur Verfügung steht. Das ist untragbar und geht zulasten der Bildung der nachkommenden Generation. Wir müssen uns nicht nur die Frage stellen, woran es liegt, dass das System aus Bildungsministerien und Schulen so langsam reagiert, sondern wir müssen die Antworten auf diese Frage in konsequentes Handeln umwandeln.
Gewaltige Chancen
In der Digitalisierung des Bildungssystem liegen gewaltige Chancen, die sich nicht nur in Krisenzeiten auszahlen. Richtig angegangen, ist eine individuellere Förderung von Schülerinnen und Schülern bei gleichzeitiger Effizienz- und Qualitätssteigerung möglich. Es lohnt sich, hier beherzt zu investieren,
Vergleichbaren Aufholbedarf hat die Digitalisierung des Gesundheitssystems. Auch dort fehlt vielfach die technische Infrastruktur. Sie muss besonderen Sicherheitsanforderungen genügen, da es um hochsensible Gesundheitsdaten geht. Viele Gesundheitsämter meldeten Infektionsdaten zu spät und dann auch noch per Fax, was die Auswertung erschwert. Ein weiteres Beispiel: Wenn Quarantäne-Anordnungen per Post erst nach Ablauf der Quarantänefrist eintreffen, haben sie keinen gesellschaftlichen Nutzen, verursachen aber Kosten.
Die Digitalisierung im Gesundheitssystem sollte sich aber nicht nur auf die Meldeinfrastruktur in Pandemien konzentrieren. Standardisierte Schnittstellen für die Übertragung von Medizin- und Patientendaten und sicherheitszertifizierte Netze zu deren Übertragung helfen nicht nur in Krisenzeiten. Sie können auch die Effizienz und Qualität des Gesundheitswesens in Nicht-Pandemiezeiten verbessern. Diese Aufgabe drängt, weil die Demografie in Deutschland einen deutlichen Anstieg der Gesundheitskosten erwarten lässt.
Kernaufgabe der Versicherer
Für Versicherer ist die Analyse und Verringerung von Risiken, wie sie im Rahmen dieses Beitrages für zukünftige Pandemien angeregt werden soll, eine Kernaufgabe. Es entspricht ihrem grundlegenden Bestreben, die Schadenfälle ihrer Kunden einzuschätzen und gering zu halten. Damit tragen sie erheblich zur Sicherheit von Individuen und Unternehmen bei. Ein Rückblick in die über 120-jährige Geschichte unseres Unternehmens zeigt, dass es gerade Krisen waren, die nachhaltige Lernprozesse bewirkt haben, um resilienter und zukunftsfähiger zu werden.
Der Talanx-Konzern hat in der Coronakrise ebenfalls Lehrgeld bezahlt. Coronaschäden der Kunden belasteten die Erfolgsrechnung 2020 mit fast 1,5 Mrd. Euro. Auch Mitarbeiter haben sich mit dem Coronavirus infiziert. Die Arbeitsorganisation musste angepasst werden: Zuletzt haben 90% der mehr als 23000 Mitarbeiter des Konzerns mobil aus dem Homeoffice gearbeitet. Es ist uns gelungen, die Nähe zu unseren Kunden auch auf digitalen Kommunikationswegen abzubilden. Die Versicherungsbedingungen in vielen Vertragsarten wurden präzisiert, damit zukünftig klarer erkennbar ist, was in Pandemien versicherbar ist und was nicht. Die Beratung für das Risikomanagement von Unternehmenskunden wurde überarbeitet.
Die außergewöhnliche Situation hat es uns ermöglicht, als Unternehmen in kurzer Zeit viel dazuzulernen und uns stark weiterzuentwickeln. Unsere Lernkurve ist noch nicht zu Ende. Bei vielen Schäden ergibt sich erst in der Abwicklung neues Wissen, das für zukünftiges Risikomanagement nutzbar gemacht werden kann. Wir werden weiter an uns arbeiten. Und das sollten wir auch als Gesellschaft tun.