Strukturwandel zum Anfassen – Jülich zeigt, wie es geht
SERIE: KEIN STEIN BLEIBT AUF DEM ANDEREN (6)
Strukturwandel zum Anfassen
In Jülich entsteht ein Gewerbepark mit Vorbildcharakter – Außergewöhnliche Forschungsinfrastruktur soll Investoren anziehen
Annette Becker, Jülich
Wenn Ende 2029 die Lichter in den Tagebauen im Rheinischen Revier ausgehen, müssen die Weichen für die Zukunft gestellt sein. Mit Jülich, Titz und Niederzier haben sich drei Kommunen zusammengetan, um im „Brainergy Park“ neue Arbeitsplätze zu schaffen. Ihr Vorteil: Jülich verfügt über eine außergewöhnliche Forschungsinfrastruktur.
Viel wird dieser Tage über Energiewende, Transformation und deren Finanzierung philosophiert. Im Rheinischen Revier wird aus der Theorie jedoch schon bald Praxis. Seit 2022 steht fest: Von 2030 an wird in der Kölner Bucht keine Braunkohle mehr verstromt. Höchste Zeit also, sich über die Zukunft Gedanken zu machen. Insbesondere die Kommunen, die sich rund um die Tagebaue befinden, müssen die Frage beantworten, wo neue Arbeitsplätze herkommen sollen. Vom Braunkohleausstieg sind nach Angaben der Zukunftsagentur Rheinisches Revier unmittelbar 8.000 Beschäftigte betroffen, mittelbar, also bei Zuliefererbetrieben, kommen noch einmal 15.000 Menschen dazu.
Axel Fuchs, parteiloser Bürgermeister von Jülich, ist einer der kommunalen Vertreter, die in der Pflicht stehen, dass es nach dem Ausstieg aus der Kohle in der Region weitergeht. Zwar stellen Bund und das Land Nordrhein-Westfalen für die Transformation des Rheinischen Reviers Fördermittel in Höhe von 14,8 Mrd. Euro zur Verfügung. Doch muss das Geld auch sinnvoll, sprich nachhaltig, investiert werden.
Interkommunaler Gewerbepark
Im Vergleich zu anderen Kommunen hat Jülich mit dem Kernforschungszentrum, einem Standort des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) sowie der Nähe zur RWTH Aachen den Vorteil, über eine außergewöhnliche Forschungsinfrastruktur zu verfügen. „Wir haben pro Kopf die höchste Wissenschaftlerdichte“, sagt der Bürgermeister der 35.000 Einwohner zählenden Kommune im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Das alleine ist jedoch kein Garant für erfolgreichen Strukturwandel.
In Jülich kam der entscheidende Impuls von Marcus Baumann, der 2014 noch Rektor der Fachhochschule Aachen am Campus Jülich war. Er überzeugte die Kommunen Jülich, Titz und Niederzier davon, dass diese sich in dem geplanten interkommunalen Gewerbepark auf Zukunftsthemen spezialisieren. Zu dieser Zeit, erzählt Fuchs, habe noch niemand von Strukturwandel gesprochen, der Ausstiegszeitpunkt aus der Kohle war damals für 2045 avisiert.
Im ersten Schritt gaben die Kommunen ein Gutachten in Auftrag, in dem bewertet wurde, ob ein Gewerbepark mit Fokus auf Energiethemen und neue Technologien überhaupt tragfähig sei. Mit dem positiven Bescheid in der Tasche zogen die Bürgermeister dann zum Klinkenputzen in die Ministerien los.
Der Park ist zu 90% reserviert, teils auch schon verkauft.
Axel Fuchs
Heute steht der Brainergy Park, der sich auf 52 Hektar (ha) erstreckt und den Themen Nachhaltigkeit, Klimawandel, erneuerbare Energien und neue Technologien widmet. „Der Park ist zu 90% reserviert, teils auch schon verkauft“, freut sich Fuchs, der auch Aufsichtsratsvorsitzender der Brainergy Park Jülich GmbH ist. Inzwischen wird an der Erweiterung gearbeitet. Der neue Regionalplanentwurf sieht für den Brainergy Park Erweiterungsflächen von bis zu 172 Hektar vor. Zunächst soll der Park um gut 41 Hektar vergrößert werden. Davon sind elf Hektar für Brainergy Craft, einen weiteren interkommunalen Gewerbepark in der Gemeinde Titz, vorgesehen. Dort entsteht gezielt Raum für Handwerksbetriebe und Zulieferer aus dem Umfeld der Tagebaue.
Mit Brainergy Craft reagieren die Kommunen auf den Vorwurf, sie würden sich nicht ausreichend um die Gewerbetreibenden und das Handwerk in der Region kümmern. Denn wer sich im Brainergy Park ansiedeln will, muss bestimmte Kriterien erfüllen. Neben der Zahl der zu schaffenden Arbeitsplätze geht es um an Nachhaltigkeit orientierte Gestaltungsvorgaben, die einzuhalten sind, und es muss thematisch passen. „Wir können nicht jeden nehmen“, sagt Fuchs und verweist darauf, dass es mehr Anfragen als Flächen gebe. Zudem gilt: Wer sich ansiedeln will, muss die Fläche kaufen.
Erdrückende Zinslast
Doch so erfreut der Bürgermeister ob der hohen Nachfrage ist, so sorgenvoll blickt er auch auf die Finanzierung. Denn zwischen dem Ankauf der Grundstücke durch die GmbH und dem Weiterverkauf an Investoren vergehen Jahre. „Bis dahin tragen wir die Zinslast“, verdeutlicht Fuchs. Hinzu kommen Sonderthemen wie archäologische Untersuchungen, Stichwort: Römerfunde. Das kostet nicht nur Zeit, sondern auch jede Menge Geld. „Die archäologische Prospektion hat inzwischen eine Größenordnung angenommen, die etwa so groß ist wie die Erschließungskosten“, veranschaulicht der Kommunalpolitiker.
Die Betreibergesellschaft des Parks gehört Jülich zu 50%, die andere Hälfte teilen sich Titz und Niederzier. Die Kommunen selbst haben bislang noch kein Geld in den Park gesteckt, doch sie bürgen für die Kredite der GmbH. Das Problem: „Unser Bürgschaftsvolumen ist bald ausgeschöpft. Das ist ein Riesenproblem“, sagt Fuchs. „In der GmbH steht das Eigenkapital auf der falschen Seite.“ Immerhin gibt es einen ersten Lösungsansatz.
Großer Ansiedlungserfolg
Wenngleich der Aufsichtsratschef die wirtschaftliche Situation nicht aus den Augen verlieren darf, ist ihm das inhaltliche Vorankommen wichtiger. Hier wurden im vorigen Jahr einige Meilensteine erreicht. Der größte Ansiedlungserfolg war der Vertrag mit QCG Computer, einer Tochter der taiwanesischen Quanta Computer. Zwischen Erstkontakt und Vertragsunterzeichnung verging kein Jahr, seit November baut der Entwickler von Modulen für autonomes Fahren auf einer Fläche von 22.500 Quadratmetern eine Produktionsstätte samt dazugehöriger Forschungs- und Entwicklungsstätte. Entstehen sollen 500 Arbeitsplätze. Projektierer, Bauherr und Vermieter ist der niederländische Entwickler von Industrie- und Logistikimmobilien CTP, den sich QCG zur Seite genommen hat.
„Es ist in kleinerem Maßstab das, was Microsoft in Bedburg macht.“ Der US-Konzern hatte im vorigen Jahr im Rheinischen Revier eine Milliardeninvestition für den Bau eines Hyperscale-Rechenzentrums angekündigt. Ebenso wie bei Microsoft fließen in das QCG-Projekt keinerlei Fördergelder. „Die waren von der Grundidee überzeugt und denken jetzt schon über eine Vergrößerung nach“, sagt Fuchs, der im Park bis 2030 über 4.000 Arbeitsplätze ansiedeln will. Firmen wie Quanta Computer, die laut Fortune-Liste zu den 500 größten Unternehmen weltweit gehört, bringen nicht nur Geld mit, sondern verfügen über eine ganz eigene Strahlkraft.
Wir sind heute das Strukturwandelprojekt, das man sehen und anfassen kann.
Axel Fuchs
Ein weiteres Highlight war die Eröffnung des im Park befindlichen Startup Village, in dem sich Gründerteams mit zukunftsweisenden Geschäftsideen einmieten können. Dabei wird ihnen mit Beratung, Networking und Zugang zu den Forschungseinrichtungen unter die Arme gegriffen. Einzig die Finanzierung müssen die Jungunternehmen selbst mitbringen. „Normalerweise haben die Start-ups einen Mentor und eine finanzierende Bank im Rücken“, sagt Fuchs. Mit zwölf Start-ups sei das Village inzwischen ausgebucht, zwei Unternehmen stünden schon auf der Warteliste.
Kernstück des Parks soll das im Bau befindliche Innovations- und Gründerzentrum Brainergy Hub, das bis Ende 2026 fertiggestellt werden soll. Hier sollen sich die Start-ups aus dem Village ansiedeln, wenn sie über die erste Gründungsphase hinausgewachsen sind. Zugleich errichtet die kommunale Betreibergesellschaft ein Forschungslabor, das jungen Firmen aus Chemie und Verfahrenstechnik als Basis für Forschung und Produktentwicklung dienen soll. Dabei liegt der Fokus auf Wasserstofftechnologien, auch weil sich das Helmholtz-Cluster Wasserstoff im Park angesiedelt hat.
Feld für Tech-Investoren
Wie sich Geschäftsideen und Forschung gegenseitig befruchten, zeigt das Beispiel Synhelion, die an CO2-freiem Kerosin forscht. Das Schweizer Start-up, das 2016 gegründet wurde und zu dessen Finanzierern auch die Lufthansa-Tochter Swiss gehört, hat 2024 in Jülich seine erste Versuchsanlage im Industriemaßstab errichtet. Die Standortwahl hing Fuchs zufolge vor allem mit der Nähe zum DLR zusammen.
„Wir sind heute das Strukturwandelprojekt, das man sehen und anfassen kann. Andere sind längst nicht so weit“, sagt Bürgermeister Fuchs. Er weiß, dass der Strukturwandel ohne staatliche Unterstützung nicht gelingen kann. „Es ist uns super gelungen, mit unserer Idee zu überzeugen. Jetzt sind wir in der glücklichen Lage, dass wir vom Fördergeber massiv unterstützt werden.“ Insgesamt sind 100 Mill. Euro an Fördergeldern zugesagt und zum Teil auch schon geflossen. Was es jetzt braucht, sind Investoren, die auf Zukunftstechnologien setzen und Unternehmen, die sich im Park ansiedeln. Die Kommunen werden erst langfristig über die Sekundäreffekte wie wachsende Kaufkraft, Gewerbesteuereinnahmen und Bevölkerungswachstum profitieren. „Nach einer Prognos-Studie gehen wir auf rosige Zeiten zu. Aber die Zeiträume sind lang und niemand weiß, ob das am Ende aufgeht“, so seine nachdenkliche Schlussnote.
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