Talanx setzt sich ehrgeizigere Ziele bis 2027
Im Interview: Torsten Leue
Talanx legt die Latte bis 2027 höher
Vorstandschef: Erstversicherung auf höheres Niveau gehoben – Resilienzreserven verstärkt – Gegenwind im deutschen Privat- und Firmenversicherungsgeschäft
Ein Jahr früher als geplant hat der drittgrößte deutsche Versicherungskonzern Talanx seine Finanzziele in der laufenden dreijährigen Strategieperiode bis 2025 erreicht und übertroffen. Nun legt der Vorstand des Mehrmarkenversicherers um Konzernchef Torsten Leue die Latte für die kommenden Jahre bis 2027 höher.
Herr Leue, ein Jahr vor dem Ende Ihrer aktuellen dreijährigen Strategieperiode geben Sie sich neue mittelfristige Finanzziele. Weshalb schon jetzt?
In der laufenden Strategieperiode 2023 bis 2025 konnten wir unsere selbst gesteckten Ziele früher als erwartet erreichen und sogar übertreffen. Daher setzen wir uns jetzt neue Mittelfristziele bis 2027.
Entscheidend ist unsere kulturelle Weiterentwicklung, die die Umsetzung unserer fokussierten Strategie erst ermöglicht hat. Kultur ist für uns Strategie. Das drückt sich auch in den Ergebnissen aus. Seit 2018 hat sich unser Nettogewinn von rund 700 Mill. Euro auf voraussichtlich mehr als 1,9 Mrd. Euro in diesem Jahr fast verdreifacht. Wir haben das Ergebnis in diesem Zeitraum damit um durchschnittlich 18% pro Jahr zweistellig gesteigert, was über dem Wettbewerb liegt.
Warum sind Sie besser als erwartet vorangekommen?
Neben der weiterhin hervorragenden Entwicklung der Hannover Rück haben wir unsere Erstversicherung auf ein deutlich höheres Niveau heben können. Unsere Erstversicherung hat ihren Versicherungsumsatz seit 2022 um rund 35% erhöht, der Gewinn hat sich überproportional fast verdoppelt. Damit stieg der Beitrag der Erstversicherung für den gesamten Konzerngewinn auf fast 50% an.
Welche Rolle spielt dabei die 2023 vereinbarte größte Übernahme seit dem Börsengang der Talanx 2012?
Sie ist nur ein Faktor. Durch die Übernahme der Liberty-Gesellschaften in Lateinamerika sind wir dort zur Nummer 2 im Sachversicherungsmarkt aufgestiegen. Die Übernahme trägt mit mehr als 80 Mill. Euro in 2024 nach Finanzierungskosten zu unserem Konzernergebnis bei.
Wie steht es um die Ergebnisqualität?
Wir konnten unsere Ergebnisqualität durch eine höhere Resilienz stärken. Externe Gutachter attestieren uns Resilienzreserven von insgesamt 3,7 Mrd. Euro. Im Strategiezyklus seit 2022 haben wir diese um 1 Mrd. Euro erhöht.
Inwiefern gilt das für die Kapitalanlagen?
Auch in diesem Bereich haben wir unsere Resilienz gestärkt. In den vergangenen zwei Jahren haben wir rund 500 Mill. Euro an stillen Lasten in den Kapitalanlagen bewusst realisiert, um diese mit höheren Zinsen wiederanlegen können, um unsere Gewinne in der Zukunft zu stärken. Im Übrigen verfolgen wir seit Jahren einen konservativen Low-Beta-Ansatz in unserer Kapitalanlagestrategie und sind daher mit fast 82% in festverzinslichen Anlagen investiert. Davon liegen 93% der Anlagen im Investment-Grade-Bereich.
Ändert sich in Anbetracht der Marktentwicklung etwas an der niedrigen Aktienquote?
Nein. Unsere Aktienquote liegt nach wie vor bei 1%. Für unser Risiko-Rendite-Profil ist es aus unserer Sicht sinnvoller, deutlich mehr Risikokapital in der Versicherungstechnik als in den Kapitalanlagen zu allokieren.
Durch Diversifizierung lassen sich auch Risiken im Versicherungsgeschäft leichter abfedern. Wo stehen Sie hier?
Wir verfolgen mit Blick auf die Risikostreuung seit langem das Ziel, beim Nettogewinn ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Erst- und der Rückversicherung zu erreichen. 2018 kam die Erstversicherung noch auf einen Anteil von rund 30%. Inzwischen liegt er infolge des stärkeren Gewinnanstiegs der Erstversicherung bei 47% und damit sehr nah an unserem strategischen Ziel.
Wie sieht es mit der Diversifizierung in der Erstversicherung aus?
Unsere Erstversicherung ist ein diversifizierter und zugleich fokussierter Sachversicherer. Fast 50% des Versicherungsumsatzes der Erstversicherung entfällt auf unser Corporate-&-Specialty-Geschäft. Die andere Hälfte verteilt sich mit 36% auf das internationale und mit 18% auf das deutsche Privat- und Firmenkundengeschäft.
Und geografisch?
Wir erwirtschaften etwa die Hälfte des Umsatzes in den reifen Märkten Westeuropas. Die andere Hälfte erzielt die Erstversicherung vor allem in Wachstumsmärkten wie zum Beispiel in Mittel- und Osteuropa sowie Lateinamerika, aber auch im asiatisch-pazifischen Raum.
Sie legen in der aktuellen Strategieperiode stärker zu als Konkurrenten. Welche Rolle spielen die Kosten?
Effizient Versicherungsschutz anzubieten ist ein wesentlicher Wettbewerbsfaktor. Unser Wachstum begründet sich unter anderem damit, dass wir in 93% unseres gesamten Portfolios Kostenführer in den jeweiligen Segmenten Rückversicherung, Corporate & Specialty sowie Retail International sind. Im deutschen Retailgeschäft, dessen Beitrag zum Konzernergebnis aktuell bei 7% liegt, haben wir noch einen Weg vor uns.
Das deutsche Privat- und Firmenversicherungsgeschäft ist aktuell Ihr einziges Segment mit Gegenwind. Die kombinierte Schaden-Kosten-Quote im Kfz-Versicherungsgeschäft lag in den ersten neun Monaten bei 114%. Wann ist der Break-even zu erwarten?
Der gesamte deutsche Markt für Kfz-Versicherung ist derzeit aufgrund der hohen Schadeninflation in einer herausfordernden Situation. Dem können wir uns nicht entziehen. Mit den aktuell in der Umsetzung befindlichen Maßnahmen sind wir zuversichtlich, im kommenden Jahr wieder ein auskömmliches Ergebnis zu erzielen.
Das Retail-Deutschland-Geschäft war lange ein Restrukturierungsfall. Was muss jetzt geschehen?
In einer herausfordernden Marktsituation müssen wir uns noch konsequenter auf unsere Stärken fokussieren. Diese sehen wir in der Sachversicherung vor allem im Geschäft mit Firmen und freien Berufen und in der Lebensversicherung neben der Kooperation mit unseren Bankpartnern bei biometrischen Produkten.
Wie sieht die Renditeerwartung für den nächsten Dreijahreszeitraum aus?
Wie für alle Geschäftsbereiche gilt es auch im deutschen Retailgeschäft, unsere neue strategische Eigenkapitalrendite von mindestens 12% zu erreichen.
Retail Deutschland ist der Bereich, in dem die Talanx nicht Kostenführer ist. Ist das ein Ziel, das Sie verfolgen?
Wir streben auch dort an, unsere Kostenposition wesentlich zu verbessern.
Der Ergebnisanteil von Retail Deutschland am Nettoergebnis der Talanx ist auf 7% gesunken. Wird die Bedeutung des inländischen Firmen- und Versicherungsgeschäfts für den Konzern noch weiter schrumpfen?
Es ist kein strategisches Ziel, den Anteil des deutschen Geschäfts mit Privat- und Firmenkunden zu reduzieren. Da die Märkte außerhalb Deutschlands allerdings stärker wachsen, ist zu erwarten, dass der Anteil rein mathematisch niedriger werden wird.
Welche Erwartungen haben Sie an die Schaden-Kosten-Quoten in den Erstversicherungssegmenten bis 2027?
Mit einer kombinierten Schaden-Kosten-Quote in der Erstversicherung von 92,4 Prozent nach 9 Monaten im laufenden Geschäftsjahr gehe ich davon aus, dass wir gut positioniert sind, unsere Konzern-Ziele bis 2027 zu erreichen.
Ändert sich etwas an den Ansätzen in den Erstversicherungssegmenten?
Nein. Im Geschäftsbereich Corporate & Specialty, der den Versicherungsumsatz seit 2022 um 22% auf rund 10 Mrd. Euro gesteigert hat, sind wir ein Global Player. Mit rund 5.100 internationalen Programmen können wir Großkunden als einer der wenigen Anbieter weltweit betreuen. Dort werden wir weiter profitabel wachsen. Im Privatkundengeschäft in Deutschland dagegen streben wir aufgrund des herausfordernden Marktumfeldes Stabilität an. Das Geschäft liefert einen erheblichen und dauerhaften Dividendenbeitrag.
Und Retail International?
Unsere strategische Aufstellung im Geschäftsbereich Retail International erlaubt auch weiterhin, profitabel Marktanteile organisch zu gewinnen. In den vergangenen zwei Jahren ist der Bereich um 4 Mrd. auf 9,3 Mrd. Euro gewachsen, davon zur Hälfte anorganisch im Wesentlichen durch die Liberty-Transaktion. Der Wachstumsmotor im Ausland läuft auch ohne Akquisition gut weiter.
Wie sehen die Wachstums- und Renditeerwartungen im Corporate-&-Specialty-Segment aus?
Das Segment hat sich profitabel mit einer kombinierten Schaden-Kosten-Quote von 91 Prozent bei den Prämien von rund 4,5 Mrd. Euro im Jahr 2018 auf inzwischen 10 Mrd. Euro mehr als verdoppelt. Das ist eine erfreuliche Entwicklung.
Bleibt das so? Oder rechnen Sie mit einer Abschwächung?
Wir sind sehr zuversichtlich, aufgrund unserer strategischen Aufstellung und unserer Kostenführerschaft weiter profitabel Marktanteile gewinnen zu können.
Welches Wachstum schwebt Ihnen für Retail International vor?
Das internationale Geschäft in Lateinamerika und Mittel- und Osteuropa hat aus unserer Sicht noch sehr viel Wachstumspotenzial. Ausgehend von einer höheren Marktdurchdringung bei Versicherungen sehen wir in diesen Regionen bis 2040 ein Marktpotenzial von rund 100 Mrd. Euro, für dessen Erschließung wir mit derzeit rund 40 Millionen Vertragsbeziehungen eine gute Ausgangslage haben.
Wie verteilt es sich auf die Regionen?
Der Liberty-Zukauf in Lateinamerika hat uns in der Region auf ein neues Level gehoben und uns zusätzlich zu einer besseren regionalen Diversifizierung geführt. Lateinamerika und Europa tragen nun mit jeweils rund 50% fast gleich große Anteile am Versicherungsumsatz bei.
Wie profitabel ist das Geschäft in Lateinamerika?
Derzeit trägt das Lateinamerikageschäft im Bereich Privat- und Firmenversicherung International ungefähr 45% und damit einen bedeutenden Anteil zum Segmentergebnis bei.
Bremst das Lateinamerika-Geschäft bei der Profitabilität?
Nein. Wir streben weiter an, profitable Marktanteile zu gewinnen. Lateinamerika wird die Eigenkapitalrendite mittelfristig in der Erstversicherung der Talanx nicht verwässern, sondern stärken.
Ist die Liberty-Integration abgeschlossen?
Die Integration ist weit fortgeschritten, wird aber unter anderem aufgrund der IT-Migration noch bis etwa 2027 andauern. Im laufenden Geschäftsjahr werden schon mehr als 50 Mill. Euro an Synergien erreicht worden sein, und damit haben wir rund 40% der gesamten Synergien im ersten Jahr nach dem Zusammenschluss gehoben.
Wann werden alle Kostensynergien realisiert sein?
Wir haben dem Markt signalisiert, dass wir bis 2027, also innerhalb von etwa drei Jahren nach Closing, alle Kostensynergien im Zusammenhang mit der Übernahme der Liberty-Gesellschaften in Lateinamerika gehoben haben werden. Mit Bekanntgabe der Akquisition haben wir Mitte 2023 avisiert, dass das zugekaufte Geschäft 2025 einen Ergebnisbeitrag nach Finanzierungskosten von 80 Mill. Euro ausmachen wird. Dieses Ziel werden wir ein Jahr früher erreichen. Auch hier gilt die Botschaft: früher und mehr, als wir den Märkten versprochen haben.
Welche Rolle spielen weitere Zukäufe in den nächsten Jahren?
Wir wollen weiterhin profitabel wachsen – organisch, aber auch anorganisch. Wir können uns in unseren Kernmärkten im Geschäftsbereich Retail International weitere Zukäufe vorstellen, insbesondere in Mexiko, wo wir noch nicht unter den fünf größten Sachversicherungsunternehmen rangieren. Zudem sind wir offen für Zukäufe im Corporate-&-Specialty-Bereich, zum Beispiel in profitablen Nischen in den USA, dem größten Versicherungsmarkt der Welt.
Können Sie sich einen noch größeren Zukauf als das Liberty-Geschäft in Lateinamerika vorstellen?
Für anorganisches Wachstum steht uns ein mittlerer einstelliger Mrd.-Euro-Betrag zur Verfügung. Ich würde fünf Zukäufe zu jeweils 1 Mrd. Euro einer großen Übernahme zu 5 Mrd. Euro vorziehen. Am Ende kommt es darauf an, ob der Zukauf für den Konzern wertschaffend und strategisch sinnvoll ist. Und insgesamt gilt: Wir bleiben bei unserem disziplinierten M&A-Ansatz.
Inwiefern hängen die neuen mittelfristigen Finanzziele von weiteren Zukäufen ab?
Unsere neuen Ziele können wir ohne Zukäufe erreichen. Wir wollen von 2024 bis 2027 unseren Nettogewinn um 30% auf mehr als 2,5 Mrd. Euro steigern. Kostenführerschaft, Fokus und Diversifizierung sowie eine Kultur, die Unternehmertum unterstützt: Das sind Faktoren, die mich optimistisch stimmen, unsere neuen Mittelfristziele zu erreichen, zumal wir auch sehr resilient aufgestellt sind. Das gilt auch mit Blick auf die Dividende.
Was meinen Sie genau?
Unser Ziel ist es, unseren Aktionären für das Geschäftsjahr 2027 eine Dividende von 4 Euro pro Aktie zu zahlen, was eine Steigerung von 50% im Vergleich zum laufenden Geschäftsjahr bedeutet. Durch den gestiegenen Dividendenreservefaktor, der das Verhältnis der HGB-Gewinnrücklage zur Dividende zeigt, stellen wir sicher, dass die Dividende auch in wirtschaftlich schwierigen Jahren weiter von Jahr zu Jahr steigen kann.
Steigt der Dividendenpfad erstmals stärker als der Ergebnispfad an?
In der Vergangenheit war das unterschiedlich und auch durch einzelne Sondereffekte geprägt. Bis 2027 streben wir nun eine deutlich über dem Ergebniszuwachs liegende Dividendenerhöhung an: Das Konzernergebnis soll um 30%, die Dividende um 50% steigen.
Das Interview führte Carsten Steevens. Das vollständige Interview lesen Sie auf www.boersen-zeitung.de