Transformation braucht Kapitalmarktunion
Europas Einheit wird „in Krisen geschmiedet, und Europa wird sein wie die Lösungen, die wir für diese Krisen finden“. So formulierte es einst Jean Monnet, einer der Vordenker der Europäischen Union. Mit Blick auf die vergangenen eineinhalb Jahrzehnte kann man ihm nur recht geben. Die Europäische Währungsunion hat die Euro-Schuldenkrise – entgegen den Prognosen vieler kluger Ökonomen – überlebt und steht dank des neu geschaffenen Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) solide da. Mit Hilfe des Juncker-Plans hat die EU die europäische Wirtschaft nach der Euro-Schuldenkrise wieder in Schwung gebracht. Selbst der Brexit hat die EU nicht gesprengt, sondern sie im Gegenteil enger zusammenrücken lassen.
In der Pandemie bewährt
Aktuell bewährt sich die EU in der Corona-Pandemie – nicht nur, weil die herausragenden Forscherinnen und Forscher von Biontech in Rekordzeit einen führenden Impfstoff entwickelt haben. Der gemeinsame Einkauf hat eine gerechte Verteilung von Impfstoffen ermöglicht und – nach einigen Anlaufschwierigkeiten – in vielen EU-Staaten für im internationalen Vergleich hohe Impfquoten gesorgt. Gleichzeitig helfen der Europäische Aufbauplan und der Europäische Garantiefonds wirtschaftlich schwächeren Staaten und Regionen, die Folgen der Pandemie zu bewältigen.
Die EU hat seit der Jahrtausendwende wiederholt eindrucksvoll bewiesen, dass sie handlungsfähig und solidarisch ist. Um es mit Jean Monnet zu sagen: Sie ist an ihren Krisen gewachsen. Doch die ständige Suche nach schnellen Lösungen für akute Krisen hat auch einen großen Nachteil: Die Vollendung des 1993 gegründeten Europäischen Binnenmarktes ist in den Hintergrund der politischen Agenda getreten. Leider hat Europa auch im deutschen Bundestagswahlkampf keine Rolle gespielt. Dabei wäre ein gestärkter Binnenmarkt von entscheidender Bedeutung in einer Zeit, in der Europa im wirtschaftlichen Wettbewerb mit den USA und China immer stärker unter Druck gerät.
Potenzial nicht genutzt
Das Problem sind nicht die mangelnden Voraussetzungen in Europa, vielmehr nutzt Europa sein Potenzial nicht aus. Bis heute haben wir in der EU zwar einen Binnenmarkt für Waren, aber keinen vollständig funktionsfähigen Markt für Dienstleistungen. Das trifft vor allem die ansonsten boomende Digitalwirtschaft. Wenn ein Start-up im Silicon Valley ein gutes Produkt entwickelt, findet es sofort einen riesigen Heimatmarkt vor – und kann bereits dort so weit wachsen, dass es danach global bestehen kann. In Europa dagegen müsste dasselbe Start-up schon in einer frühen Phase so viele Juristen beschäftigen, die sich mit ausländischem Steuer- oder Verbraucherrecht auskennen, dass eine Internationalisierung sich kaum lohnt oder zumindest viel, viel langsamer verläuft.
Es fehlen zudem eine Kapitalmarktunion und eine echte Bankenunion mit einer gemeinschaftlichen Einlagensicherung. Noch immer existieren zwischen den einzelnen EU-Ländern erhebliche Unterschiede bei den rechtlichen Rahmenbedingungen. Deshalb scheuen Aktionäre und Käufer von Unternehmensanleihen vor Investitionen jenseits ihrer eigenen Landesgrenzen zurück – und verpassen so mögliche attraktivere Anlagemöglichkeiten. Die Vollendung der Bankenunion, die eine einheitliche Bankenaufsicht, einen Banken-Abwicklungsmechanismus und eine gemeinschaftliche Einlagensicherung vorsieht, ist vor diesem Hintergrund ein notwendiger Schritt.
Auch die Skepsis gegenüber Verbriefungen, ein zentraler Bestandteil der Kapitalmarktunion, sollten Europas Regierungen überwinden: Ja, gebündelte Kredite waren Auslöser der Finanzkrise – weil niemand ein wachsames Auge darauf hatte. Sie könnten aber heute, besser kontrolliert und reguliert, für Banken ein gutes Instrument sein, um zusätzliches Kapital für neue Unternehmenskredite frei zu machen und Investitionen in grüne Technologien zu finanzieren.
Die Europäische Kommission hat gut daran getan, eine ambitionierte Strategie zur grünen und digitalen Transformation der europäischen Wirtschaft aufzulegen. Damit hat sie auch global ein wichtiges Zeichen gesetzt. Nun muss Europa seine Versprechen einhalten und massiv Kapital mobilisieren. Das Fehlen eines wettbewerbsfähigen Kapitalmarkts droht die ambitionierten Klimaziele der Europäer zu gefährden. Denn in diesem Jahrzehnt werden gewaltige Investitionen nötig, um den Energie- und Verkehrssektor, große Teile der Industrie und Millionen von Immobilien umzubauen sowie die Menschen in Europa vor den Folgen des Klimawandels zu schützen, die sie in diesem und vergangenen Sommern bereits drastisch gespürt haben.
Kooperation erforderlich
Das wird nur gehen, wenn Regierungen, öffentliche und private Banken zusammenarbeiten und private Anleger grenzüberschreitend mit an Bord holen. Im Kampf gegen den Klimawandel muss Europa eine zusätzliche Finanzierungslücke von 350 Mrd. Euro füllen – und zwar pro Jahr über mindestens zehn Jahre.
Auch wenn wir uns daran gewöhnt haben, dass Staaten und Zentralbanken die Wirtschaft mit gewaltigen Summen unterstützen – es wird nicht beliebig so weitergehen. Die Zinsen werden nicht dauerhaft extrem niedrig bleiben, die Staatsverschuldung wird an Grenzen stoßen, und über höhere Steuern lässt sich eine solche Jahrhundert-Transformation auch nicht finanzieren. Aber Europa hat den bereits erwähnten Trumpf in der Hand, den es jetzt ausspielen sollte: Die Schaffung einer echten Kapitalmarkt- und Bankenunion würde einen tiefen, leistungsfähigen Kapitalmarkt entstehen lassen.
Vorteile gemeinsamer Regeln
Was gemeinsame Regeln bewirken können, zeigt sich bei nachhaltigen Finanzierungen: Die EIB hat mit der Begebung der ersten grünen Anleihe einen wichtigen Impuls für den Markt mit Green Bonds und später Sustainability Bonds gegeben. Daraus hat sich ein einheitliches Marktverständnis entwickelt, was eine grüne oder nachhaltige Anleihe ausmacht. Und mit der EU-Taxonomie sind nun transparente Kriterien geschaffen worden, welche Wirtschaftsaktivitäten heute schon als grün gelten oder sich dorthin entwickeln können.
Bei nachhaltigen Finanzierungen haben Investoren damit ein klares Regelwerk an der Hand, an dem sie sich orientieren können. Diese Transparenzinitiative auf EU-Ebene ist eine wichtige Leitplanke für den Markt, der mittlerweile 2 Bill. Euro schwer ist. Auf dieser Erfahrung gilt es nun aufzubauen und auch in anderen Bereichen gemeinsame Standards zu entwickeln. Solange Europa weiter an unterschiedlichen Insolvenz-, Wertpapier- und Verbraucherregeln für 27 nationale Teilmärkte festhält, bleibt es unter seinem Potenzial.
Auf der Basis einer echten Kapitalmarktunion könnte die Gemeinschaftswährung Euro zu einer echten Konkurrenz für den Dollar aufsteigen. Im EU-Inneren wiederum würde sie die Finanzierungsmöglichkeiten für Unternehmen erweitern und Vermögen aus aller Welt anziehen. Bis heute sind Europas Firmen zu sehr auf Kredite angewiesen: Private Banken wie die Deutsche Bank stellen in Europa etwa 80% der Unternehmensfinanzierung zur Verfügung. Banken werden einen entscheidenden Beitrag zur grünen und digitalen Transformation in der Privatwirtschaft leisten, doch sie können den enormen Finanzierungsbedarf eben bei Weitem nicht allein stemmen.
In den USA finanzieren sich die Unternehmen zu rund 60% am Kapitalmarkt, in der EU nur zu 20%. Wenn sich die Europäer hier annäherten, würde das gewaltige Summen für Investitionen freisetzen. Europäische Start-ups müssten für ihre Wachstumsphase nicht nach US-Investoren suchen. Und ein europäischer Shootingstar wie Biontech müsste, nach Anschubfinanzierung durch die EIB, nicht mehr an die US-Technologiebörse Nasdaq gehen, wenn sein Finanzbedarf für Innovationen in den dreistelligen Millionenbereich steigt.
Summe der Lösungen
Wenn Jean Monnet recht damit behält, dass die Europäische Union die Summe der Lösungen ist, die sie für Krisen findet, dann dürfte die Klimakrise den nächsten Integrationsschub bringen. Mehr Mut für mehr Europa wäre dafür dringend nötig. Denn die grüne und digitale Transformation Europas kann nur gelingen, wenn sie mit der Vollendung des Binnenmarktes einhergeht, einschließlich einer Kapitalmarkt- und Bankenunion.