Evergrande

Angst vor einem Evergrande-Default

Der Vergleich der Evergrande-Krise mit dem Lehman-Kollaps scheint übertrieben. Allerdings drohen angesichts des hohen Anteils der Immobilienbranche an Chinas BIP negative realwirtschaftliche Folgen.

Angst vor einem Evergrande-Default

Von Christopher Kalbhenn,

Frankfurt

Nach den schweren Kursverlusten, die die Schieflage des chinesischen Immobilienriesen China Evergrande am Wochenauftakt ausgelöst hat, haben sich die Gemüter an den Aktienmärkten am Dienstag beruhigt. In Europa, aber auch in Hongkong wurde ein Teil der Vortagesverluste wieder wettgemacht.

Doch die Krise der mit mehr als 300 Mrd. Dollar verschuldeten Evergrande schwelt weiter, wie sie ausgeht beziehungsweise eventuell gelöst wird, möglicherweise mit Hilfe des chinesischen Staates, bleibt völlig unklar. Damit bleiben auch die Befürchtungen, dass sich die Krise über Ansteckungseffekte ausweitet, erhalten. Es ist sogar von Chinas Lehman-Moment die Rede. Der Vergleich mit jenem Desaster, das die globalen Kreditmärkte einfror und die Weltwirtschaft fast zum Stillstand brachte, scheint nach derzeitiger Kenntnis jedoch etwas weit hergeholt. Amerikanische und europäische Banken sind nicht in größerem Umfang im chinesischen Immobilienmarkt engagiert. Anders sieht dies für chinesische Institute aus. Laut der Citigroup sind China Everbright Bank, China Minsheng Bank und Ping An Bank die höchsten Kreditrisiken bei chinesischen Immobilienentwicklern.

Die Uhr tickt

Was den befürchteten Default von Evergrande betrifft, tickt die Uhr. Am Montag setzte das Unternehmen eine Zinszahlung aus, am Donnerstag werden Zinsen in Höhe von 83,5 Mill. Dollar für eine bis Mai 2022 laufende Anleihe fällig, gefolgt von einer weiteren Zinszahlung für eine bis zum Mai 2024 laufende Anleihe am 29. September. Evergrande hat eine Frist von bis zu 30 Tagen nach Fälligkeit, um den Default über die Zahlung der Zinsen zu vermeiden. Für Nervosität an den Finanzmärkten dürfte damit auch für die kommenden Tage gesorgt sein.

Banken äußerten sich überzeugt, dass der Vergleich mit dem Lehman-Desaster überzogen ist. Ein echter Lehman-Moment sei eine Krise von einer ganz anderen Größenordnung, so etwa Barclays. „Dazu müsste man einen Kreditgeberstreik in großen Teilen des Finanzsystems, eine starke Zunahme von Kreditproblemen außerhalb des Immobiliensektors und Banken, die sich weigern, im Interbankenfinanzierungsmarkt miteinander Geschäfte zu machen, sehen.“

Kein neues Problem

Auch die DWS glaubt nicht an eine systemische Krise. Nach Auffassung des Assetmanagers scheinen die jüngst aufgekommene Angst vor einer Ansteckung und die Kursverluste vom Montag zumindest derzeit in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Situation zu stehen. Der jüngste Ausverkauf sei durch die drohende Umschuldung von Evergrande, Chinas hoch verschuldetem und zweitgrößten Immobilienentwickler ausgelöst worden. Diese Probleme seien weder neu noch überraschend. Zwischen 2014 und 2018 sei die Verschuldung der Immobilienentwickler rasant gestiegen. Die jüngste Krise habe begonnen, als die chinesische Regierung restriktive Maßnahmen ergriffen habe, um die Schuldenlast im Immobiliensektor zu verringern beziehungsweise zu begrenzen. Auch dies sei nicht überraschend und dauere schon eine ganze Weile an. Seit dem Sommer hätten die schwachen Immobilienpreise und die schwächeren Immobilienkäufe infolge der staatlichen Restriktionen die Situation verschärft, so dass Evergrande ihre Zinszahlung am 20. September habe ausfallen lassen. Sowohl die Aktien als auch die Anleihen anderer hoch verschuldeter chinesischer Immobilienentwickler seien in den letzten Monaten ebenfalls unter Beschuss genommen worden, was wiederum verdeutliche, dass das Potenzial eines Kreditereignisses, das von diesem Segment ausgehe, für die meisten Marktteilnehmer kaum als große Überraschung gelten könne.

Die DWS hält eine geordnete Umschuldung für das wahrscheinlichste Szenario. Priorität der chinesischen Behörden ist ihrer Meinung nach, das Ausmaß sozialer Unruhen und nicht das Ausmaß von Marktkorrekturen zu begrenzen. Chinesische Bauträger verlangten von Hauskäufern in der Regel hohe Vorauszahlungen, oft ein oder zwei Jahre vor der Fertigstellung eines Projekts, die einen Großteil der Ersparnisse der Hauskäufer ausmachten. Das seien die Gläubiger, die den chinesischen Entscheidungsträgern am meisten am Herzen liegen dürften. Die chinesische Regierung hat nach Meinung der DWS ein starkes Interesse daran, groß angelegte Zwangsverkäufe zu vermeiden. „Denn dies könnte zu Dominoeffekten führen, an deren Ende viele chinesische Haushalte finanzielle Einbußen hinnehmen müssten. Schließlich stehen Wohlstand und soziale Sicherheit derzeit im Mittelpunkt der chinesischen Politik.“ Zu bedenken sei auch, dass das direkte Engagement ausländischer Anleiheinhaber bei Evergrande relativ bescheiden zu sein scheine. „Selbst unter den inländischen Banken sollte das Engagement ziemlich breit gestreut sein, und die hohe Verschuldung dürfte bereits zu hohen Abschreibungen geführt haben, was weitere Schieflagen vielleicht be­grenzen könnte.“ Allerdings seien chinesische Banken und Finanzinstitute auch stark bei den Zulieferern von Evergrande engagiert, was das Potenzial für Dominoeffekte veranschauliche. „Zudem würde eine Verschlechterung der Wachstumsprognosen die Stimmung weiter verschlechtern, nicht nur bei den chinesischen Immobilienkäufern“, so der Assetmanager.

Hoher Anteil am BIP

Die Evergrande-Schieflage könnte, selbst wenn eine systemische Krise vermieden wird, sehr negative realwirtschaftliche Folgen haben, die auch in anderen Regionen zu spüren sein würden. Laut der AGI ist das chinesische Wachstum im zurückliegenden Jahrzehnt vor allem durch den Zyklus seiner Baubranche getrieben worden. Auf die Immobilienbranche entfielen je nach Definition zwischen 12,3% und 16,4% des BIP, indirekt Schätzungen zufolge nahezu 30%. Ihr Wachstum habe China zum größten Rohstoffverbraucher der Welt gemacht.

Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, dass Bergbau- und Stahlaktien am Montag zu den stärksten Verlierern zählten, ebenso weitere Sektoren mit hohen Geschäftsanteilen in China wie die Automobil- und die Luxusgüterbranche.

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