„Die Kurse fallen nicht, weil die Zinsen steigen“
Wolf Brandes.
Herr Flossbach, eines der großen Themen an den Märkten ist die Inflation. Die Preissteigerungsraten haben sich in ungeahnte Höhen geschraubt. Welche Auswirkungen hat das für Sie als Investor?
Die Entwicklung nenne ich die „neue Realität“. Für die meisten Menschen sind solche Inflationsraten etwas völlig Neues. Und es ist mittlerweile klar, dass es sich nicht um eine vorübergehende Entwicklung handelt, sondern sich die Inflation strukturell bei mehr als 2% festsetzen wird.
Ist man als Anleger in Aktien, also in Sachwerten, wirklich vor der Inflation geschützt?
Das gilt nur unter zwei Prämissen. Aktien profitieren, wenn die Zinsen nicht über die Inflationsrate steigen. Außerdem müssen die Firmen einen Inflationsausgleich bieten, und da kommt der etwas arg strapazierte Begriff der Preissetzungsmacht ins Spiel. Das ist ein komplexes Thema, denn der Mechanismus funktioniert nur bei einer starken Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen. Ein Vorteil für die Unternehmen ist, dass die Inflation mittlerweile allgegenwärtig ist und deshalb Preisanhebungen leichter durchzusetzen sind.
Die andere Seite der Medaille ist die Geldpolitik. Welche Risiken bergen die steigenden Zinsen für die Märkte?
Ein schwieriges Thema. Ich möchte nicht in der Haut eines Notenbankers und speziell der EZB-Präsidentin stecken. Wenn man die Inflation wirklich bekämpfen wollte, müsste man die Zinsen so stark anheben, dass dadurch die Nachfrage auf ein Niveau fällt, das mit Preisstabilität vereinbar ist. Das war früher, als die Verschuldung der Staaten noch deutlich niedriger war, einfach. Heute sieht das aber ganz anders aus. Die Möglichkeiten der Notenbanker, die Zinsen anzuheben, sind begrenzt.
Sie sprechen damit hoch verschuldete Länder wie Italien an, deren Staatsschulden fast 160% des BIP ausmachen?
Klar ist, dass Europa bei Zinserhöhungen im Vergleich zu den USA weit zurückliegt. Sicherlich könnte die Wirtschaft in Europa eine leichte Erhöhung der Leitzinsen auf vielleicht 1% gut ertragen, einerseits. Andererseits sind die aktuellen Renditen für zehnjährige italienische Anleihen mit mehr als 3% schon stark gestiegen; es besteht die Gefahr, dass sich diese auf dem Niveau festfressen oder gar auf 4% und mehr steigen. Dann ist Italien zwar nicht insolvent, aber es hat ein großes Solvenz-Thema. Bei 4% Rendite müsste Italien dann 25% der Staatseinnahmen für Zinsen aufwenden – das wäre dauerhaft kaum zu tragen.
Rechnen Sie mit einem solchen Szenario?
Es ist zumindest nicht auszuschließen. Wenn sich dieses Zinsniveau über sechs Monate hält, könnte es eng werden. Möglich ist dann, dass die EZB zwar im Schaufenster die Leitzinsen erhöht, aber hintenherum italienische und möglicherweise auch spanische Staatsanleihen kaufen wird. Es geht schließlich darum, eine Panik zu vermeiden und die Verluste bei den Investoren der Anleihen wie lokalen Banken abzufedern. Wenn man das nicht tun würde, gingen die Risikoprämien durch die Decke. Aber mit der hohen Inflationsrate ist es nicht mehr so einfach wie früher zu sagen: Macht euch keine Sorgen, wir stehen bereit. Angesichts der Inflation kämpft die EZB derzeit um ihre Glaubwürdigkeit.
Das klingt nach erheblichen Risiken für Investoren im Euroraum. Was muss man als Anleger angesichts der volatilen Aktienmärkte und der steigenden Zinsen tun?
Ich habe seit 15 Monaten keine einzige Anleihe mehr im Portfolio. Möglicherweise ändert sich das in Zukunft. In den vergangenen Tagen hat sich das Chance-Risiko-Profil einzelner Unternehmensanleihen signifikant verbessert. Bei Corporates mit einer Rendite von 6% kann man schon wieder genauer hinschauen. Fest steht aber auch, dass eine Kauf-und-Halte-Strategie bei Anleihen angesichts der hohen Inflation kaum Sinn ergibt. Selbst wenn italienische Staatspapiere eine Rendite von 4% abwerfen würden, wären sie allenfalls als taktisches, also temporäres Investment attraktiv.
Zurück zu den Sachwerten und speziell zu den Aktien. Was tut sich bei Ihnen im Portfolio?
Es gibt Titel im Bereich der defensiven Konsumgüter wie beispielsweise Nestlé und Pharmawerte, die sich gut gehalten haben und das Portfolio stabilisieren. Andere Outperformer der jüngsten Zeit wie Öl-Aktien und Rüstungsunternehmen haben wir aus unterschiedlichen Gründen kaum oder gar nicht im Fonds.
Wie sehr schaden die höheren Zinsen den Aktien, da sich diese über die Diskontierung auf die Bewertungen niederschlagen? Wie stark sind Tech-Werte betroffen?
Das wird für den Aktienbereich häufig so gesagt. Aber es ist falsch, die aktuelle Entwicklung an den Märkten auf die höheren Zinsen zu schieben. Wenn das Geschäft eines Unternehmens bombig läuft, dann ist es dem Markt egal, ob die Zinsen bei 2 oder 3% stehen. Entscheidend ist, dass der Laden läuft. Die Kurse fallen nicht, weil die Zinsen steigen, sondern weil die Aussichten schlechter geworden sind.
Gilt das auch für Unternehmen wie beispielsweise Amazon, die sich anders als Alphabet, Microsoft und Meta nicht unter den Top Ten in Ihrem Flaggschiff-Fonds finden?
Das Unternehmen ist ein besonderer Fall und der Kursrückgang lag daran, dass die Firma zu stark expandiert hat, die Kosten durchgeschlagen sind und jetzt mit den Lohnerhöhungen weiter steigen. Aber die Firma hat mit Amazon Web Services einen unglaublich interessanten Bereich, der viel profitabler ist als vergleichbare Bereiche anderer Unternehmen. Das Cloud-Geschäft macht inzwischen 75% des Börsenwertes von Amazon aus.
Wie interessant ist inzwischen die zweite Reihe der Technologiewerte in den USA?
Da warte ich noch auf die Bodenbildung. Zum Vergleich: Der Nasdaq-Index ist von 2000 bis 2002 ungefähr um 80% gefallen. Das würde heute nicht mehr passieren, weil der Index ganz anders strukturiert ist und viele hochprofitable Unternehmen enthält. Daher nehmen wir als Proxy für die zweite Reihe den Ark-Fonds von Cathie Wood. Die Aktien in diesem Fonds kann man von der Struktur her vergleichen mit dem, was die Nasdaq um die Jahrtausendwende war.
Ein interessanter Ansatz. Was sind die Erkenntnisse?
Der Ark-Fonds hatte Mitte Februar 2021 seinen Höchstkurs erzielt und ist jetzt über 70% gefallen. Nach der Faustregel müssten es mindestens 75 bis 80% sein, um eine Bodenbildung zu sehen. Und die Leute müssen das Handtuch schmeißen, das heißt, es muss deutliche Abflüsse aus dem Segment geben. Danach sieht es langsam aus. Inzwischen verlassen sogar viele Robinhood-Trader den Markt.
Im Ark-Fonds findet sich auch Tesla. Das ist ein Unternehmen, das Sie vor einiger Zeit noch kritisch bewertet haben. Wie sehen Sie Tesla heute?
Ich muss gestehen: Es ist beeindruckend, wie schnell Elon Musk so eine Größenordnung erreicht hat, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Die Zahlen bestätigen den Erfolg. Der Absatz ist jetzt in Dimensionen, bei denen die Konkurrenten langsam schlucken müssen. Allerdings sind die 800 Mrd. Dollar Börsenwert immer noch eine echte Hausnummer. Aber der Kurs hat sich recht gut gehalten und wächst weiter in die Bewertung hinein. Tesla muss weiter wachsen, aber eben nicht mehr jedes Jahr mit 50%. Hut ab vor Elon Musk! Er hat eine enorme Bedeutung für die Firma.
Steht die Aktie bei Ihnen auf der Watchlist?
Das werde ich nicht sagen, aber Tesla hat bewiesen, dass ein unvorstellbares Wachstum möglich ist. Tesla ist nicht Teil der Blase. Die Denk- und Arbeitsweisen von Tesla sind beeindruckend und den etablierten Automanagern völlig fremd. Nicht nur das Umsatzwachstum, sondern auch die Margen und die Bilanzqualität sind top und setzen neue Maßstäbe.
Große Sorge macht den Märkten China. Wie sieht es aus mit Investments dort?
China ist ein Riesenthema, aber wir haben dort nur eine Miniposition. Die Bedeutung der chinesischen Wirtschaft ist unstrittig, das Land ist die Werkbank der Welt. Doch aktuell haben die Lockdowns enorme Konsequenzen für Unternehmen, die Waren von dort beziehen und dort verkaufen. Die Unsicherheit ist zudem noch größer, seitdem der chinesische Staat klargemacht hat, wie er mit großen Unternehmen umgeht. Ein fundamentales Risiko, das sich in den Aktienkursen womöglich noch immer nicht ganz widerspiegelt. Investoren müssen deshalb auch eine sehr hohe Risikoprämie fordern.
Wie wirkt sich die Abschottung Chinas weltweit aus?
Der Appetit auf chinesische Unternehmen und den Standort wird weiter leiden, der Vertrauensverlust ist angesichts der Tendenz zu immer mehr Autarkie groß. Man sollte aber nicht in Panik verfallen. Es gibt durchaus Unternehmen aus dem Westen, die wegen ihres China-Engagements in den vergangenen Wochen über Gebühr abgestraft wurden.
Das Interview führte