Volatilität

Ende der Flucht aus chinesischen Aktien?

Die Volatilitätskurve des Hang Seng China Enterprise Index ist invers. Eine derartige Volatilitätsstruktur kündigte in der Vergangenheit alle großen Wenden nach oben an, so nach der Finanzkrise 2008.

Ende der Flucht aus chinesischen Aktien?

Erst machte er die Kursanstiege nicht mit. Dann fiel er schneller und stärker als alle anderen. Der Hang Seng China Enterprise Index (HSCEI) ist aktuell der Underperformer unter den großen Aktienindizes. Am 31. Ok­tober schloss er so tief wie zuletzt im Jahr 2005. Vom Verlaufshoch nach dem Covid-Crash ging es bis Ende Oktober 60% nach unten – von mehr als 12000 auf weniger als 5000 Punkte.

Seitdem haben erste Quarantäne-Lockerungen, Hoffnungen auf eine weitere Abkehr von der Zero Covid Policy und natürlich die allgemein positive Marktstimmung nach dem Rückgang der US-Inflationsrate zwar zu einer Erholung um gut 900 Punkte beziehungsweise knapp 20% ge­führt. Das große Bild ändert dies jedoch nicht. Der Drawdown liegt weiterhin jenseits der 50%.

Wie konnte es so weit kommen? Gründe für eine Skepsis gegenüber chinesischen Aktien gibt es mehrere. Der Konflikt mit Taiwan droht militärisch zu eskalieren. Die bisherige Zero-Covid-Strategie hat das Wachstum im Reich der Mitte auf den niedrigsten Wert seit mindestens 30 Jahren gedrückt. Ausnahme war nur das Pandemiejahr 2020. Tech- und Immobiliensektor kämpfen weiterhin mit ihren ganz eigenen Problemen.

Diese Themen wurden jedoch nicht erst im laufenden Quartal bekannt. Anlegerinnen und Anleger hatten lange Zeit, sie einzupreisen. Meist gehen politische und wirtschaftliche Risiken mit niedrigeren Bewertungen einher. Mit einem historischen Kurs-Gewinn-Verhältnis von 4,8 und einem Kurs-Buchwert-Verhältnis von 0,54 hat der HSCEI am 31. Oktober seine niedrigste Bewertung seit Beginn der Datenverfügbarkeit im Jahr 2001 erreicht.

Beim breiter diversifizierten Schwesterindex Hang Seng, dem auch mehr als zwei Drittel der Titel aus dem HSCEI angehören, geht die Datenhistorie bis ins Jahr 1993 zurück. Auch in diesen 30 Jahren waren das Kurs-Gewinn-Verhältnis sowie das Kurs-Buchwert-Verhältnis nie günstiger.

Interessanter Vergleich

Interessant ist ein Vergleich der in Hongkong gehandelten H-Shares mit den in Schanghai und Shenzhen gehandelten A-Shares. Im ersten Halbjahr 2021, in dem die Kurse per saldo stagnierten, entwickelten sich der HSCEI sowie der Shanghai Shenzhen CSI 300 Index im Gleichlauf. Seitdem ging es für den HSCEI um 51% nach unten, für den CSI 300 um 31% – ein Unterschied von 20 Prozentpunkten.

Gründe finden wir auf dem Future-Markt. Um sich mit Future-Positionen für fallende Kurse zu positionieren, wählen Anleger und Anlegerinnen den liquideren und weniger regulierten Markt in Hongkong. Wie stark die Wetten auf fallende HSCEI-Notierungen angestiegen sind, zeigt ein Blick auf das Open Interest, die Anzahl der ausstehenden Kontrakte. In der Geschichte des HSCEI war dieses Open Interest nie höher als im Oktober des aktuellen Jahres. Lediglich während des Weihnachtscrashs 2018 wurden ähnlich hohe Werte erreicht. Klar ist, dass alle Future-Kontrakte, die leerverkauft wurden, irgendwann zurückgekauft werden müssen. Anfang 2019 führte dieses Shortcovering zu einem Plus von 20% innerhalb von zwei Monaten und gleichzeitig zu einem deutlichen Rückgang der ausstehenden Kontrakte. Diesmal reicht die Erholung des HSCEI noch nicht aus, um das Open Interest nachhaltig zu senken. Es liegt weiterhin im Bereich des vorherigen Rekordhochs aus dem Dezember 2018.

Weitere große Ausschläge sind also jederzeit möglich. Als der HSCEI auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008 letztmalig unter die 5000 Punkte rutschte, kletterte er an­schließend in nur einem Monat um fast 60% nach oben, bis auf 7600 Punkte.

Hoffnung auf Trendwende

Diese extremen Schwankungen machen sich zwangsläufig in den Volatilitäten bemerkbar. Der Volatilitätsindex des HSCEI steht Mitte November doppelt so hoch wie der Volatilitätsindex des Dax. Auffallend ist zudem die Volatilitätsstruktur des HSCEI. Die Volatilitätskurve ist invers. Und sie ist trotz der Erholung in der zweiten Novemberwoche invers geblieben. Die kurzfristig erwarteten Schwankungen übersteigen die langfristig erwarteten Schwankungen. Mittelfristig erwarten Anleger und Anlegerinnen entsprechend eine Beruhigung im Reich der Mitte. Eine inverse Volatilitätsstruktur kündigte alle großen und langfristigen Trendwenden nach oben an: nach der Finanzkrise 2008, nach dem Weihnachtscrash 2018 und nach dem Covid-Crash 2020.

Eine Timing-Empfehlung lässt sich aus der Volatilitätsstruktur jedoch nicht ableiten. Ob der 31. Oktober tatsächlich der Tiefpunkt war oder ob die Bewertungen noch günstiger werden und die Volatilitätskurve noch inverser wird – beides ist möglich.