Ausblick

Europa droht die Gaskrise

Für den Winter bahnt sich eine europäische Gaskrise an mit gegenüber dem bereits jetzt anspruchsvollen Preisniveau verdreifachten Notierungen für den Energieträger.

Europa droht die Gaskrise

Von Dieter Kuckelkorn, Frankfurt

Die jüngsten Entwicklungen im Ukraine-Krieg haben bei den Marktteilnehmern auf dem europäischen Gasmarkt und den Gasverbrauchern Alarmglocken ausgelöst. Erstmals hat die Ukraine den Transport von russischem Gas eingeschränkt und dies mit der Einnahme einer Pumpstation durch russische Truppen begründet, während die russische Seite angibt, der Transfer von Gas sei in keiner Weise beeinträchtigt. Gleichzeitig hat die russische Seite aber die Verlagerung der Gasmengen auf einen anderen Übergabepunkt, der sich noch unter Kontrolle der ukrainischen Regierung befindet, abgelehnt. Zudem hat Moskau erstmals Gegensanktionen verhängt gegen europäische Akteure am Gasmarkt, nämlich den russischen Netzbetreiber Europol Gaz und die frühere deutsche Gazprom-Tochter, über die die Bundesnetzagentur die Kontrolle übernommen hat.

Dies weckt die Sorge, dass der europäische Markt für Erdgas in den kommenden Monaten ein wichtiger Austragungsort für den sich zuspitzenden neuen Ost-West-Konflikt werden könnte. Die EU strebt möglichst schnell den Abschied von russischen Gaslieferungen an und will auf andere Anbieter ausweichen, um Russland auf diese Weise von Einnahmen abzuschneiden. Russland könnte sich veranlasst sehen, seine Gegensanktionen zunehmend auf den Gasmarkt auszuweiten. Die Analysten des Beratungsunternehmens Rystad Energy warnen nun vor ei­nem sehr starken Anstieg der Preise am europäischen Spotmarkt für Erdgas im kommenden Winter. Für den Fall, dass die russischen Erdgaslieferungen eingestellt würden, rechnen sie mit einem Anstieg des Gaspreises am niederländischen Knotenpunkt TTF von derzeit rund 33 Dollar je 100000 British Thermal Units auf rund 100 Dollar. Dies wäre eine Verdreifachung des Preises. Umgerechnet auf Euro je Megawattstunde liefe das auf ein Niveau von bis zu 300 Euro hinaus, ein neuer Rekord bezogen auf den kurz erreichten Höchststand von rund 211 Euro. Zum Vergleich: Im Frühjahr 2021 hatte der Gaspreis noch unter 20 Euro betragen.

Entlastung erst nach 2024

Nach Einschätzung der Analysten von Rystad Energy hat zwar die aktuelle Krise eine Vielzahl von neuen Projekten für verflüssigtes Erdgas (Liquefied Natural Gas, LNG) angeschoben, diese würden aber erst nach 2024 Entlastung bringen. Die LNG-Nachfrage werde im laufenden Jahr 436 Mill. Tonnen betragen und damit das Angebot von 410 Mill. Tonnen sehr deutlich übertreffen. Derweil will die Europäische Union (EU) die Abhängigkeit von russischem Gas bis zum 1. November um 66% reduzieren. Nach Meinung der Analysten steht dieses Ziel allerdings in einem klaren Widerspruch zu der ebenfalls geäußerten Absicht, die EU-Lager bis zum 1. November zu mindestens 80% gefüllt zu haben, um über den Winter zu kommen. „Es gibt einfach nicht genug LNG, um die Nachfrage zu befriedigen. Kurzfristig wird dies für einen harten Winter in Europa sorgen“, befürchtet Kaushal Ramesh, Senior Analyst bei Rystad.

Dabei sollte nicht übersehen werden, dass zumindest zwei der Akteure in der aktuellen Gemengelage ein Interesse daran haben könnten, Europa durch ein Zudrehen des Gashahnes unter Druck zu setzen. Die Ukraine, die den Krieg letztlich militärisch zu verlieren droht, dürfte ein Interesse daran haben, die europäischen Nato-Staaten und die USA stärker in den Krieg auf der eigenen Seite einzubeziehen. Russland wiederum hat ein Interesse daran, die EU zu Rückziehern bei den Sanktionen und der Unterstützung der Ukraine zu zwingen. Ausfälle bei den Einnahmen aus dem Gasverkauf kann sich Russland ohne weiteres leisten, weil das Land gegenwärtig allein 20 Mrd. Dollar pro Monat aus dem Ölverkauf einnimmt – so viel wie nie zuvor.

Die EU steht hingegen vor schweren Zeiten – was auch für Europas Finanzmärkte gelten könnte. Der Euro würde unter die Parität zum Dollar rutschen, und auch der europäische Aktienmarkt stünde vor weiteren ausgeprägten Verlusten.

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