Kions Kursverfall bietet Gelegenheiten
Von Karolin Rothbart, Frankfurt
Mit seinen Gabelstaplern und Lösungen für die Lagerautomatisierung operiert der Intralogistikkonzern Kion in einem recht zyklischen Markt. Je höher die Konsumlaune privater Verbraucher, umso höher ist der Bedarf von produzierenden Unternehmen und Händlern an Staplern, Robotern und Software für ihre Warenlager. Andersherum gehen Anleger offenbar davon aus, dass Firmen weniger Lagertechnik benötigen, wenn das Geld in den Haushalten konjunkturbedingt nicht mehr ganz so locker sitzt.
Mit Blick auf den diesjährigen Kurssturz der Kion-Aktie wird das nur allzu deutlich. Gut 50% hat das Papier seit Jahresbeginn verloren – und gehört damit im MDax zu den schlechtesten Performern. Kostete das Papier zu seinen Hochzeiten Mitte November noch deutlich mehr als 100 Euro, belief sich der Preis zuletzt noch auf gut 45 Euro. Der Vergleich zu anderen europäischen Industrieunternehmen liefert sogar ein noch trüberes Bild: Im Branchenindex Stoxx Europe 600 Industrial Goods & Services ist die Kion-Aktie mit ihrer Entwicklung seit Anfang 2022 zurzeit das Schlusslicht. Selbst der Hamburger Rivale Jungheinrich, seinerseits die Nummer 2 in Europa nach Kion, musste trotz der allgegenwärtigen Lieferkettenprobleme, Materialengpässe und steigenden Produktions- und Logistikkosten nicht so viele Federn lassen.
Zu hoch gestapelt
Die „schwierigen Rahmenbedingungen“, „makroökonomischen Unsicherheiten“ oder auch einfach nur „Herausforderungen“, wie Branchen-Kommunikationsexperten die Lage seit einiger Zeit gern blumig beschreiben, treiben die gesamte Industrie nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit vor sich her. Ende März hatte Jungheinrich seinerseits noch vor Veröffentlichung der Geschäftszahlen von 2021 darauf aufmerksam gemacht, dass das Ergebnis in diesem Jahr deswegen deutlich schrumpfen dürfte. Kion war zu dem Zeitpunkt noch weitaus optimistischer. Der neue Chef Rob Smith, zuvor CEO beim finnischen Kranhersteller Konecranes, hatte Anlegern wegen der gut gefüllten Auftragsbücher bereits Wochen zuvor einen Ergebnisanstieg von mehr als einem Drittel prophezeit. Analysten waren irritiert: „Im aktuellen Umfeld hatten wir eine zunächst vorsichtige Herangehensweise an das Jahr 2022 erwartet“, schrieb etwa Stifel-Experte Daniel Gleim.
So dürfte der Rückzieher von Kion wenig später auch nur Wenige überrascht haben. Die Frankfurter kassierten ihre Prognose Anfang April. Einen neuen Ausblick hat das Unternehmen bislang noch nicht vorgelegt, plant dies aber „im weiteren Verlauf des Jahres“ zu tun.
Verkanntes Potenzial
Anleger, darunter der chinesische Industriekonzern Weichai Power, sind so viel Unsicherheit nicht unbedingt gewohnt, war Kion doch in den vergangenen Jahren mit Ausnahme vom Corona-Jahr 2020 kontinuierlich gewachsen. Die Flucht aus der Aktie halten Analysten mittlerweile allerdings für etwas überzogen. Nach Auswertung der Geschäftszahlen aus dem zweiten Quartal hielt Baader-Experte Peter Rothenaicher zuletzt an seiner Kaufempfehlung und an seinem Kursziel von 65 Euro fest und kam zu dem Schluss, dass der Markt in den vergangenen Monaten „viel schlimmere Aussichten für 2022 und 2023“ eingepreist habe. „Wir sind noch immer überzeugt, dass Kions Aktivitäten in der Intralogistik- und Warenhausautomatisierung ein exzellentes langfristiges Wachstum bieten, gepaart mit Gewinnmöglichkeiten, die im Aktienpreis nicht angemessen berücksichtigt sind.“
Sorgen um den Cashflow
So sehen es auch die meisten anderen Beobachter. Von den bei Bloomberg gelisteten 23 Aktienexperten raten derzeit 16 zum Kauf der Papiere. Das durchschnittliche Kursziel liegt mit knapp 64 Euro rund 40% über dem aktuellen Kurs. Dabei gehen die Schätzungen teils weit auseinander: Während Stifel-Analyst Gleim mit einem Anstieg auf 120 Euro rechnet, erwartet Bernstein-Experte Nicholas Green einen weiteren Preisrückgang auf 29 Euro. Der Analyst stört sich vor allem an der für 2021 beschlossenen Rekorddividende von 1,50 Euro je Aktie. Dividenden seien zwar schön, schreibt er. Wenn der Cashflow aber knapp sei, sollte sie geopfert werden dürfen, um das Wachstum anzukurbeln.
Zwar liegt Kion mit seiner Ausschüttungsquote von 35 % in diesem Jahr unter der durchschnittlichen Quote aller Dax-, MDax- uns SDax-Unternehmen (41%). Der Cashflow der Frankfurter hatte wegen der intensiveren Mittelbindung zuletzt allerdings wirklich stark gelitten. Im ersten Jahresviertel flossen knapp 433 Mill. Euro ab, im zweiten waren es noch rund 159 Mill. Euro. „Wir haben den Anstieg der halbfertigen Stapler im Lagerbestand im zweiten Quartal dramatisch reduziert“, resümierte CEO Rob Smith bei der Vorstellung der jüngsten Quartalsergebnisse.
Wegen der gestiegenen Material-, Energie- und Logistikkosten habe man die Verkaufspreise für die Flurförderfahrzeuge zudem bislang quartalsweise erhöht – in diesem Jahr teils bereits im mittleren, teils aber auch im hohen einstelligen Prozentbereich. Analysten rechnen dennoch für das laufende Jahr mit einer schwachen Profitabilität. Der Konsens beziffert die bereinigte Ebit-Marge derzeit auf 6,4%, nach 8,2% im Vorjahr. Ab dem Jahr 2023 wird wieder ein Anstieg vorausgesagt.
Kion selbst hatte sich bis 2023 eine Rendite zwischen 10 und 12% vorgenommen. Den Umsatz hofft der Konzern bis dahin auf über 12 Mrd. Euro zu steigern. Dabei sieht Smith gerade mit Blick auf das Geschäft mit Technologie- und Softwarelösungen zur Optimierung von Lieferketten noch jede Menge Potenzial: „Bislang sind lediglich um die 10% aller globalen Warenlager vollautomatisiert“, wie der Deutschamerikaner Ende Juli zum wiederholten Mal betonte. Das Unternehmen geht davon aus, dass der Markt bis zum Jahr 2027 fast 70 Mrd. Euro schwer sein dürfte, die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate liege demnach bei über 10%. Treiber der Entwicklung seien der E-Commerce-Boom, die immer kürzeren Lieferfristen, die eine maximale Effizienz in den Lagerhäusern erfordern, aber auch der sich absehbar verschärfende Arbeitskräftemangel. Geht es nach den Vorstellungen von Kion, so wird die Arbeit in den Warenlagern der Zukunft nur noch von Robotern verrichtet, die die bestellte Ware eigenständig annehmen, zwischenlagern, zusammenpacken und weitertransportieren. Dafür braucht es in den Regalreihen dann auch kein Licht mehr – der Konzern spricht hier vom „Lights-out Warehouse“.
Im klassischen, bislang noch größeren Gabelstapler-Geschäft beziffert Kion die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate bis 2027 auf etwa 4%. Analysten wittern hier vor allem in Entwicklungsregionen noch Nachfragepotenzial. Der konzernweite Gewinn je Aktie wird im Marktkonsens derzeit für das laufende Jahr auf 2,72 Euro geschätzt. Mit Blick auf den aktuellen Aktienkurs entspricht das einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 16,7. So günstig war das Papier seit 2019 nicht mehr zu haben. Berenberg-Analyst Philippe Lorrain hält die Bewertung für „attraktiv“.